Dichterstimmen

Dichterstimmen

Von Michael Bienert

Früher musste man zu Lesungen gehen oder das Radio anschalten, um die Stimmen der Autoren kennenzulernen. Heute findet man sie zahlreich auf Hörbüchern, im Internet, gesammelt im Marbacher Literaturarchiv – und neuerdings immer öfter zwischen Buchdeckeln.

Eine Rabenschar kreist über einem Berg unbegrabener toter Soldaten, lüstern krächzt sie: „Krriegswinnlerrrr sind wirrrr alle!“ Die schneidende Stimme von Karl Kraus malt die Vögel mit lang rollendem Rrrr in die Luft. Immer frecher, im garstiger, immer bedrohlicher spotten die Raben über die Menschheit, die ihnen den Fraß vorwirft. Die intensive Rezitation macht beklommen, man spürt physisch, wie der Vortragsreisende Karl Kraus sein Publikum in den Bann zog.

Die Stimme kann ein machtvolles Instrument sein, um einem Text Gehör zu verschaffen. Sie ist älter als die Schrift. Wenn Kinder schreiben und lesen lernen, dann ist der Spracherwerb schon weitgehend abgeschlossen. Die Stimme entsteht tief im Körper, sie ist persönlicher und dringt tiefer ins Ohr als die Schrift ins Auge. Doch seit der Medienrevolution des Buchdrucks spielt die Stimme als Medium der Literatur nur noch eine untergeordnete Rolle. Die Schrift ist der effektivere Weg für Autoren geworden, ihre Gedanken zu verbreiten. „Die Zeit der Rhapsoden ist vorbei und die Minnesänger sitzen jetzt an der Schreibmaschine“, schrieb Gottfried Benn über den modernen Schriftstellerberuf. Autoren haben Erfolg, wenn sie Texte zu Papier bringen, die sich durch den Druck massenhaft verbreiten lassen. Die Dichterstimme ist entbehrlich geworden.

Begnadete Rezitatoren und Performer ihrer Texte wie Karl Kraus und Joachim Ringelnatz, Ernst Jandl und Oskar Pastior blieben im 20. Jahrhundert Randerscheinungen des Literaturbetriebs. Zumindest hat eine auf die Schrift fixierte Literaturkritik und -geschichtsschreibung das so gesehen. Seit etwa fünfzehn Jahren allerdings gewinnen die Dichterstimmen im literarischen Leben zusehends an Gewicht. Während kaum noch Lyrikbände erscheinen, ziehen Slam-Poetry-Wettbewerbe und Lesebühnen ein zahlreiches Publikum an. Weltweit haben sich riesige Literaturfestivals etabliert, zu denen Dutzende oder Hunderte von Autoren eingeflogen werden um vorzulesen. Nicht wenige Schriftsteller verdienen an ihren Lesungen weit mehr als an ihren verkauften Büchern. Und der anhaltende Boom auf dem Hörbuchmarkt führt inzwischen dazu, dass neue Werke prominenter Autoren immer öfter zeitgleich als Buch und Hör-CD auf den Markt kommen. Die klare Rangordnung zwischen Erst- und Zweitverwertung, zwischen dem gedruckten und gesprochenen Wort, zwischen Schrift und Stimme, löst sich auf.

Im Internet herrscht bereits eine gewisse Parität. Von den Startseiten der großen Literaturportale gelangt man mit ein, zwei Klicks zu Audiofiles mit Dichterstimmen – der Weg zu den gedruckten Texten der Autoren ist in der Regel länger. Auf www.literaturportal.de kommen rund dreißig literarische Schwergewichte wie Alfred Andersch, Heiner Müller und Ernst Jünger sowie etablierte Gegenwartsautoren wie Gabriele Wohmann, Ingo Schulze und Thomas Brussig zu Gehör. Bei www.literaturport.de aus der Hauptstadtregion ist man der aktuellen Szene näher, da lesen Julia Franck und Katja Lange-Müller, Michael Lentz und Thomas Glavinic neben vielen unbekannteren Autoren aus ihren jüngst veröffentlichten Romanen. Ein akustischer Weltaltlas der modernen Poesie ist binnen weniger Jahre auf www.lyrikline.org entstanden: 4500 Gedichte von 450 Lyrikern in 47 Sprachen, ausgewählt von einem internationalen Expertennetzwerk. Die Seite ist mustergültig in ihrer Übersichtlichkeit, mühelos kann man Gedichte in Arabisch, Finnisch oder Urdu hören, dazu den gedruckten Text und parallel eine Übersetzung verfolgen. Historische Aufnahmen mit Brecht, Celan, Bobrowski oder Jandl ergänzen die lange Liste der deutschsprachigen Gegenwartslyrik, außerdem eine Rubrik „Lyrik für Kinder“ mit Gedichten von Paul Maar oder Christine Nöstlinger.

Jahrzehntelang schlummerten Lesungen berühmter Autoren in den Rundfunkarchiven, mittlerweile kann sich jeder auf dem Hörbuchmarkt sein eigenes Archiv der Dichterstimmen zusammenstellen: Ein fünfundzwanzig CDs starkes Paket mit Lesungen von Heinrich Böll, etliche Werklesungen von Thomas Mann oder fünf CDs mit Vorträgen von Adorno hat beispielsweise der Hörverlag im Programm.

Nicht immer jedoch bereichert die Lesung durch einen Autor die Wahrnehmung eines Textes. Gerade ist im Audioverlag eine alte DDR-Rundfunkaufnahme zum 65. Geburtstag von Anna Seghers erschienen, die ihre Erzählung Der Ausflug der toten Mädchen vorträgt, so einschläfernd, als lese sie ihren Enkeln Märchen vor. Man hört viel mehr Zwischentöne, wenn man den Text stumm für sich selber liest.

Eine sehr erschwingliche Basis für eine eigene Hörbibliothek sind die im Hörverlag erschienenen Anthologien. Zwei hat Hajo Steinert aus dem Archiv des Deutschlandfunks zusammengestellt, je ein CD-Doppelpack mit „Dichterstimmen“ der sechziger und siebziger Jahre. Leider fehlen (noch) die anderen Jahrzehnte seit dem Zweiten Weltkrieg. Der beste Sampler auf dem Markt erschien vor zwei Jahren zu einer Ausstellung in Zürich: „Anna Blume trifft Zuckmayer“. Er versammelt sechzig Stimmen auf zwei CDs mit einem 100-seitigen Booklet, ausnahmsweise einmal nicht chronologisch, sondern nach Sprechsituationen geordnet. Egon Erwin Kisch als Radioreporter vom Roten Platz in Moskau, Thomas Mann als repräsentativer öffentlicher Redner, Hubert Fichte beim Interview mit einer Prostituierten, Peter Handke beim Kollegenabwatschen vor der Gruppe 47: Die Stimme der Autoren wird als persönliches, aber auch äußerst vielseitiges Alltagswerkzeug erfahrbar.

Stimmen, die nicht auf dem Hörbuch- oder Antiquariatsmarkt verfügbar sind, kann man im Deutschen Literaturarchiv aufspüren. Seit 1979 sammelt die Dokumentationsstelle systematisch Schallplatten, Tonbänder und Videos zur deutschsprachigen Literatur; Tondokumente zu 15 000 Autoren können im Marbacher Archiv abgehört werden. Und immer wieder tragen Glücksfälle zur Vervollständigung der Sammlung bei. Im Jahr 2005 wurden dem Archiv 85 Tonbänder geschenkt, auf denen Autorenlesungen in der Stuttgarter Buchhandlung Hoser festgehalten waren; neben Canetti, Grass, Handke, Walser trat dort auch Wolfgang Hildesheimer auf, der bis dato im Marbacher Stimmenchor fehlte. Vergangenes Jahr konnte das Archiv 130 alte Schellackplatten erwerben, darunter eine Literaturrezitation aus dem Jahr 1899 und eine Aufnahme mit Erich Kästner aus den frühen Dreißigern, die sogar mit einer Widmung an seine Mutter versehen ist.

Die Lektüre von Texten ändert sich, sobald man einmal die Stimme des Autors gehört hat. Erstaunlich nüchtern, fast unbetont las Gottfried Benn seine Gedichte für den Rundfunk. Ingeborg Bachmanns Stimme klingt zugleich angespannt und brüchig. Thomas Manns stark modulierender Vortragsstil hingegen wirkt so artifiziell wie seine Prosa. Es ist die Stimme eines Repräsentanten, der sich an eine große Öffentlichkeit wendet, sehr distanziert mit einem Schuss Ironie. „Sprachmasken“ hat Elias Canetti solch unverwechselbare Sprecherphysiognomien genannt. Je tiefer man ins Archiv der Stimmen eintaucht, je weiter man in der Zeit zurückgeht, desto fremdartiger wird ihr Klang. Bis zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts war es offenbar ganz normal, dass Rezitatoren und Autoren literarische Texte mit einer Emphase vortrugen, die bei einem heutigen Lesungspublikum unweigerlich Lachsalven auslösen würde.

Der Geschichte dieser untergegangenen Vortragskunst hat der Kritiker und Literaturwissenschaftler Lothar Müller einen erhellenden Essay gewidmet, erschienen bei Wagenbach samt einer CD mit frühen Tondokumenten aus den Jahren 1902 bis 1931 – darunter der eingangs erwähnte Rabengesang von Karl Kraus. Müller verfolgt die Spur der Dichterstimmen bis zu Klopstock zurück, der „Verse fürs Ohr“ verfasste. Der schwäbische Dichter Schubart trat als erster mit öffentlichen Lesungen – aus Klopstocks Messias – auf, für die er Eintritt kassierte. Goethe hat in Weimar die Entwicklung einer eigenständigen literarischen Vortragskunst gefördert. Der Romantiker Ludwig Tieck faszinierte als eine Art wandelndes Hörbuch mit stundenlangen Dramenlesungen das Publikum. Um 1900 stand das Vortragswesen in voller Blüte, große Konzertagenturen schickten prominente Autoren und professionelle Rezitatoren auf Tournee.

Am Beispiel Franz Kafkas zeigt Lothar Müller in seinem Buch Die zweite Stimme, wie stark diese Vorlesekultur einen Nachwuchsautor beeinflussen konnte. Kafka suchte den Erfolg als Vorleser eigener und fremder Werke, er traute es sich zu, Kleists Michael Kohlhaas und seine eigene Erzählung In der Strafkolonie öffentlich vorzutragen. Eine Lungenkrankheit brachte ihn früh zum Verstummen. Dass er nach seinem Tod nicht sofort vergessen wurde, ist nicht zuletzt dem damals ungleich berühmteren Rezitator Ludwig Hardt zu verdanken, der Kafka in den zwanziger Jahren zu einem festen Bestandteil seiner Programme machte.

Seit dem Ende der Nazizeit wird allzu großes Pathos und dramatische Rhetorik bei öffentlichen Vorträgen in Deutschland als unbehaglich empfunden. Die Stimmen der Autoren klingen viel nüchterner, viel alltagsnäher. Das Publikum erwartet nicht mehr brillante Vortragskunst, eher die Illusion von Nähe und Authentizität. Wie auf den Bühnen herrscht auch in den Literaturhäusern krause Vielstimmigkeit.

Müllers Studie über die historischen Koppelungen von Schrift und Stimme ist ein schönes Exempel dafür, wie die Verbindung von Buch und CD in einer Publikation neue Zugänge zu bisher unterbelichteten Themen eröffnen kann. Die Lyrikerin und Übersetzerin Barbara Köhler nutzt diese Kombination in ihrem neuen Werk Niemands Frau souverän: Schriftbild und Klangbild sind die Pole, zwischen denen die zeitgenössische Penelope ihr Weberschiffchen hin- und herflitzen lässt. Aus dem Mythos von Odysseus und heutiger Sprache webt sie neue Texte mit der Absicht, die in der Rezeption der männlichen Heldengeschichte marginalisierten Frauen zu Wort kommen zu lassen. Wenn man ihre spröde, hochgradig reflektierte Lyrik liest und parallel die etwas raue, konzentrierte Stimme der Autorin hört, wirken die Texte auf einmal durchsichtig und leicht. Diese Form der Veröffentlichung weist in die Zukunft und ist vielleicht genau der richtige Weg, auch Gedichtbänden wieder etwas größere Chancen auf dem Buchmarkt zu verschaffen.

Hajo Steinert (Hrsg.), Dichterstimmen 1. 60er Jahre und Dichterstimmen 2. 70er Jahre. DHV, München 2004 und 2005. Jeweils 3 CDs, 24,95 Euro

Stefan Bertschi / Ingo Starz (Hrsg.), Anna Blume trifft Zuckmayer. 60 legendäre Dichter in Originalaufnahmen 1901-2004. DHV, München 2006. 2 CDs, 24,95 Euro

Anna Seghers, Der Ausflug der toten Mädchen. DAV, Berlin 2008. 1 CD, 15,99 Euro

Ernst Jandl, him hanflang war das wort. DAV, Berlin 2008. 1 CD, 15,99 Euro

Lothar Müller, Die zweite Stimme. Vortragskunst von Goethe bis Kafka. Wagenbach, Berlin 1997. 160 Seiten mit CD, 29,90 Euro

Barbara Köhler, Niemands Frau. Gesänge. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2007. CD und Buch. 112 Seiten, 16,80 Euro (kostenlose Hörprobe auf der Homepage des Suhrkamp Verlags)

Reinhardt Tgahrt (Hrsg.), Dichter lesen. Band 3: Vom Expressionismus in die Weimarer Republik. Dt. Schillergesellschaft, Marbach a. N. 1995

 

Michael Bienert schreibt aus Berlin für das Feuilleton der Stuttgarter Zeitung, u. a. jeden Montag die „Buchseiten“-Kolumne. Im März erscheint sein Buch Stille Winkel in Berlin bei Ellert & Richter.