„Ins Leere fallen“

Die Bücherverbrennung und das Schicksal von Alice Rühle-Gerstel

 

Von Hiltrud Häntzschel

 

Am 12. April 1933 schrien von den Wänden an allen deutschen Hochschulgebäuden in leuchtend roter Frakturschrift die „12 Thesen wider den undeutschen Geist“. Diese Thesen markieren in ihrem primitiv-hetzerischen Stürmer-Ton die Selbstaufgabe dessen, was sich einmal als „deutsche Universität“ und als „deutscher“ oder einfach als „Geist“ verstanden hatte. Und dann durfte nach Herzenslust geplündert werden: Mit „Schwarzen Listen“, zusammengestellt von Volksbibliothekaren, karrten Studenten in SA-Uniform und Mitglieder von NS-Organisationen wie dem Kampfbund für deutsche Kultur oder Hitlerjungen am 10. Mai (wie schon davor und noch bis in den Juni) die beschlagnahmten Bücher aus den Bibliotheken zu den Feuerstellen. In Berlin sollen es 20 000 gewesen sein. Dass übrigens an den württembergischen Hochschulen keine Bücherverbrennungen stattfanden, ist nicht etwa einer kritischen Gesinnung gegenüber dem NS-Geist geschuldet, sondern dem Kompetenzkampf zwischen dem Hauptamt der Deutschen Studentenschaft in Berlin und der württembergischen Regionalgruppe.

 

Zu den Autorinnen, deren Bücher zur Verbrennung anstanden – Gina Kaus, Irmgard Keun, Rahel Sanzara, Anna Seghers, Adrienne Thomas, selbstverständlich Rosa Luxemburg und Bertha von Suttner – gehörte auch Alice Rühle-Gerstel, obgleich sie in den Büchern über die Betroffenen meistens fehlt. Ein doppeltes Vergessen! Auf der „Schwarzen Liste IX Belehrende Abteilung: Religion, Philosophie, Pädagogik“ findet sich der Eintrag: „Rühle, Alice und Otto: alles“. Alice Rühle-Gerstel vereinigt in ihrer Person und in ihrem Werk genau das, was den NS-Studenten als „undeutsch“ und also ausmerzenswürdig galt: Sie war jüdischer Herkunft und eine intellektuelle Frau, Psychoanalytikerin und Marxistin, Theoretikerin der Frauenemanzipation, Praktikerin einer sozialistischen Erziehung – und Sexualforscherin. Ihre Bücher, ihre Feuilletons (68 allein in der renommierten Literarischen Welt), ihre Vorträge, ihre zahlreichen Beiträge im Rundfunk, all das war eine hochprozentige Giftmischung für das, was man nun die deutsche Weltanschauung nannte.

Alice Rühle-Gerstel hatte nicht viel Zeit: Den gerade mal zehn Jahren höchst produktiven Arbeitens, in denen sie ihr Denken ausbildete, sich als Journalistin, Literaturkritikerin und Schriftstellerin einen Namen machte, folgten zehn Jahre im Exil ohne nennenswerte Publikations- und Wirkungsmöglichkeiten, ohne den Austausch mit den Freunden, bis ihr am Ende nur noch der Kampf ums tägliche Überleben blieb. Diesen Kampf hat sie schließlich aufgegeben. Jahrzehntelang war sie danach völlig vergessen, ihr Werk unbekannt.

Geboren ist sie in einer deutsch-jüdischen, assimilierten Fabrikantenfamilie 1894 in Prag. Deutsches Mädchenlyceum, freiwillige Rotkreuzschwester im Krieg, Studienbeginn an der Prager Karlsuniversität, Erzieherin bei Ihrer Kaiserlichen Hoheit der Fürstin Windischgrätz: Braver, ordnungsgemäßer, bürgerlicher kann der Ausbildungsgang eines gescheiten Mädchens solcher Herkunft kaum sein. Im Wintersemester 1918/19, jenem wilden Revolutionssemester, wechselt sie nach München, wird 1921 mit einer Arbeit über „Friedrich Schlegel und Chamfort“ glänzend promoviert. Noch während des Studiums unterzieht sie sich einer Psychoanalyse bei dem Adlerianer Leonhard Seif und begegnet dem zwanzig Jahre älteren Otto Rühle, einem engagierten Pädagogen und unorthodoxen radikalen Marxisten, der als SPD-Reichstagsabgeordneter zusammen mit Karl Liebknecht 1914 als einziger gegen die Kriegskredite gestimmt hatte, nach 1919 aber jede Parteizugehörigkeit ablehnte. Mit ihrer Heirat 1922 ist der Trennungsschnitt von ihrer Familienherkunft vollzogen, freilich keineswegs der von ihrer Bildungsherkunft.

 

Die fast gleichzeitige Begegnung mit der Individualpsychologie Alfred Adlers einerseits und mit dem Marxismus andererseits führt bei Alice Rühle-Gerstel zu einer außerordentlich produktiven Erweiterung ihrer Sichtweise. Das theoretische Ergebnis dieses Zusammendenkens legt Alice Rühle-Gerstel 1927 in einer eigenwilligen Arbeit vor: Der Weg zum Wir. Versuch einer Verbindung von Marxismus und Individualpsychologie. Ihre gesamte Arbeit für die Erziehung, ihre Verlagsprojekte Monatsblätter für proletarische Erziehung und die Schriftenreihe Schwer erziehbare Kinder stehen ganz im Zeichen der Utopie von einer zukünftigen, glücklichen, sozialistischen Gesellschaft und tragen den Keim zum Dogmatismus doch immer in sich.

1932 erscheint ihr zentrales Werk Das Frauenproblem der Gegenwart. Eine psychologische Bilanz, das unter der fragwürdigen Neuetikettierung Die Frau und der Kapitalismus 1972 als erstes ihrer Bücher wieder auf den Markt kam. Es ist wohl die scharfsinnigste Analyse der Geschlechterdifferenz vor Simone de Beauvoir, auch der gegenläufigen Diskurse beziehungsweise Irrwege der Frauenbewegung. Die Autorin fokussiert das Problem in der „zeitgeforderten Antinomie, zugleich Frau und Mann sein zu müssen“, formuliert über die Theorie hinaus zukunftsweisende Forderungen, die dann erst wieder die neue Frauenbewegung der 70er Jahre als die ihren aufgestellt hat.

Im selben Moment, als dieses Buch wahrgenommen wird, Rezensionen beispielsweise von Hannah Arendt erscheinen und eine Diskussion beginnt, geben die Rühles, entmutigt durch die immer doktrinäreren Praktiken der Parteikommunisten ebenso wie durch den erstarkenden Nationalsozialismus, ihren Verlag in Dresden auf, verlassen Deutschland und übersiedeln nach Prag. Hier findet Alice Rühle-Gerstel Arbeit und Publikationsmöglichkeiten im Prager Tagblatt, kurzfristig auch in Willy Haas’ Neugründung Die Welt im Wort. Sie schreibt Feuilletons, redigiert die Kinderseite, gibt Ratschläge zur „Lebenstechnik“.

1936 folgt sie ihrem Mann, der schon 1935 als Ausländer aus Prag ausgewiesen worden war, ins mexikanische Exil. Doch im dortigen dogmatisch-stalinistischen Klima sind die Rühles zunehmend isoliert. Diego Rivera und Frida Kahlo gehören zu ihrem Kreis, Leo Trotzki und seine Frau werden ihnen zu engsten Gesprächspartnern, ideologisch freilich stehen sie ihnen fern, wie Rühle-Gerstels 1979 publizierten Tagebuchaufzeichnungen Kein Gedicht für Trotzki zu entnehmen ist.

Ihre ungewöhnliche Sprachbegabung (sie beherrscht außer Deutsch und Tschechisch auch Russisch, Französisch, Griechisch, Englisch und Italienisch) ermöglicht ihr, in kürzester Zeit bereits ins Spanische zu übersetzen, eigene Texte, dann vor allem bekannte Bühnenstücke; sie schreibt kleine Feuilletons in spanischsprachigen Zeitungen. Otto malt Postkarten mit Folkloremotiven, Alice verkauft sie neben selbstgebastelten Kunstgewerbeartikeln an amerikanische Touristen, sie erfinden und vertreiben spanische Kreuzworträtsel, das Geld reicht dennoch nicht.

Als Otto Rühle unerwartet am 24. Juni 1943 stirbt, macht Alice ihre Ankündigung wahr, stürzt sich noch am selben Tag aus dem Fenster, aus dem Leben, sie ist gerade 49 Jahre alt.

„Wo rett ich mich hin in der Welt? / Ich bin inmitten verloren / Verschlossen mit vielen Toren / Von allen Seiten umstellt.“ So beginnt ein Gedicht aus ihrem Nachlass mit dem Titel „Selbstmord eines Emigranten“.

 

Für Jahrzehnte hatten die Feuer vom Mai 1933 ihre Absicht erreicht: Alice Rühle-Gerstel wurde vollständig vergessen. Und als im Klima der neuen Frauenbewegung ihre theoretischen Schriften wieder gelesen wurden, wusste niemand, dass sie auch Romane geschrieben hatte: Einer ist auf dem Exilweg verschollen, der andere erschien erst 1984 unter dem Titel Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit bei S. Fischer und war bald wieder vergriffen.

Darin hat die Autorin ihre misslungenen Anstrengungen, verratenen Hoffnungen und das Scheitern ihrer Utopie zu verarbeiten gesucht, denn die Gesellschaft war nicht glücklich geworden, der Faschismus hatte gesiegt und der Kommunismus lehrte als Stalinismus das Fürchten.

Letztes Jahr wurde der Roman im Aviva Verlag wieder aufgelegt, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Marta Marková, enttäuschenderweise als Nachdruck der Textfassung von 1984, bei der es sich vom Autorennamen (auf Rühle-Gerstels Typoskript steht das Pseudonym Barbara Felix) über den Titel bis zu zahlreichen Eingriffen in den Text um die eigenmächtige Fassung eines früheren Bearbeiters handelt. Die 2007 erschienene Biografie über Alice Rühle-Gerstel, ebenfalls von Marta Marková, stellt mit den umfangreichen Zitaten aus unpublizierten Briefen und Dokumenten zwar eine unschätzbare Quelle dar, aber leider sind die Person und der geistige Werdegang Rühle-Gerstels unter einem Wust von Nebenschauplätzen und Lebensgeschichten zahlloser Randfiguren vergraben. Noch dazu fehlt ein Namensregister, was das Buch fast unbenutzbar macht. Die Exilforschung hat dringend auf diese Bücher gewartet, nun ist eine letzte Chance vertan.

 

„Ins Leere fallen“ – war das nicht die Angst der Protagonistin Hanna in den Umbrüchen ihres Lebens, des privaten und des politischen bei der Aufgabe der Parteizugehörigkeit und beim Verlust der Heimat?

In ihrem Roman Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit schrieb sie: „Kläglich ist das Schicksal des Emigranten, der nirgendwo dazugehört, kläglich das Schicksal des Bürgermädchens, das sich zum Apostel! – ach nur zum Weggefährten! – der Arbeiter hat machen wollen ... So jämmerlich ist das alles, so klein, so keines Mitleids wert.“

 

Zum Weiterlesen:

 

Alice Rühle-Gerstel, Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit. Ein Prag-Roman. Hrsg. und mit einem Nachwort von Marta Marková. Aviva Verlag, Berlin 2007. 444 Seiten, 24,50 Euro

 

Verlassenes Ende. Gedichte. Hrsg. von Marta Marková. Löwenzahn Verlag, Innsbruck 1988. 64 Seiten, 12,90 Euro

 

„Wo rett' ich mich hin in der Welt“. Feuilletons, Reportagen, Rezensionen und Kinderbeilagen 1924-1936. Trafo Verlag, Berlin 2007. 333 Seiten, 26,80 Euro

 

Marta Marková, Auf ins Wunderland! Das Leben der Alice Rühle-Gerstel. Studien-Verlag, Innsbruck / Wien / Bozen 2007. 530 Seiten, 49, 90 Euro

 

Werner Treß, „Wider den undeutschen Geist“. Bücherverbrennung 1933. Parthas Verlag, Berlin 2003. 247 Seiten, 24 Euro

 

Dennoch leben sie. Verfemte Bücher, verfolgte Autorinnen und Autoren. Hrsg. von Reiner Wild u. a. edition text+kritik, München 2003. 445 Seiten, 32 Euro

 

 

Hiltrud Häntzschel arbeitet als freiberufliche Literaturwissenschaftlerin und Autorin in München. Forschungsschwerpunkte sind die Wissenschaftsgeschichte von Frauen, Exilforschung und die Literatur vor allem des 20. Jahrhunderts. 2007 erschien Marieluise Fleißer. Eine Biographie im Insel Verlag. Am 5. Mai spricht sie in Stuttgart über Alice Rühle-Gerstel.