Ausgabe: November/Dezember 2008 


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Auf Wortwurzeln Fuß fassen

Ein Porträt des Christian-Wagner-Preisträgers Wulf Kirsten

 

Von Michael Braun

 

Der „weltscheue“ Dichter, der in seiner „niederen kammer“ das „naturgeheimnis“ begrübelt, tagsüber sich „ums kärgliche brotkorn“ müht und nachts von dämonischen Erscheinungen heimgesucht wird: So hat Wulf Kirsten, der passionierte Landschaftsdichter und Wörtersammler, vor dreißig Jahren in einem faszinierenden Porträtgedicht den schwäbischen Naturmystiker Christian Wagner (1835–1918) beschrieben. Bei aller Sympathie für den naturbesessenen Kleinbauern Wagner, der sich als Poet der „Schonung alles Lebendigen“ verschrieben hatte, bewahrt sich Kirsten in seinem Gedicht gegenüber dem Außenseiter im „flickengewand“ eine deutliche Distanz. Dabei ist die lyrische Wahlverwandtschaft zwischen beiden Autoren unübersehbar. Das „gelobte Land“ liegt für beide Dichter in der Herkunftslandschaft – für Wagner in den „schwäbischen Kartoffelstudia“ seiner Warmbronner Heimat, für Kirsten, den „Flurgänger“ aus der sächsischen Provinz, auf „der Erde bei Meißen“. Beide Autoren versuchen, auf „wortwurzeln fuß zu fassen“ – so heißt es in einem frühen Gedicht Kirstens – und „die biografien aller sagbaren dinge“ ans Licht zu bringen. So ist es ein längst überfälliger Akt literaturhistorischer Gerechtigkeit, wenn Wulf Kirsten nun mit dem Christian-Wagner-Preis ausgezeichnet wird.

Vom Namensgeber des Preises unterscheidet ihn die streng historische Perspektive, mit der er seine Landschaften lyrisch vergegenwärtigt.

Im Rittergutsdorf Klipphausen, das gerade einmal sechzig Häuser und dreihundert Seelen umfasste, wurde Wulf Kirsten im Juni 1934 geboren. In dieser Gegend auf den Elbhöhen zwischen Dresden und Meißen hat der „entschlossene Landgänger“ die Geduld der Naturbeobachtung gelernt; dort hat er begonnen, die Flussläufe, Roggenfelder, Brennnesselwinkel, Pferdeställe und Feldscheunen zu erforschen und durch „inständiges Benennen“ in Poesie zu verwandeln. So erzählt etwa das Gedicht „Die Ackerwalze“, eine poetische Reminiszenz Kirstens an seine Eltern, von den entwürdigenden Bedingungen des sächsischen Landlebens zwischen Rübenäckern und Weinstöcken. Gezwungen durch bittere Armut, spannen sich Vater und Mutter als menschliches Zugvieh ins Joch und ziehen die Ackerwalze über das Feld.

Er sei „der Okularinspektionen nie überdrüssig geworden“, bekennt der Erzähler in der im Jahr 2000 erschienenen Kindheitsgeschichte Die Prinzessinnen im Krautgarten. Der Sohn eines Steinmetzen hat viel von der Arbeitsweise seines Vaters in die poetische Produktion hinübergerettet. Vor der Verfertigung seiner Gedichte versammelt er alle notwendigen Werkzeuge um sich, um dann beharrlich „aus wortfiguren standbilder [zu] setzen“, wie es in einem frühen Gedicht heißt.

Der junge Mann aus dem „Häuslerwinkel“ ließ sich in den fünfziger Jahren zur „Arbeiter-und-Bauern-Fakultät“ nach Leipzig delegieren, lernte die Weltliteratur kennen und war von seinen „Erweckungsbüchern“ fasziniert: Das waren die Gedichtbände Peter Huchels und Johannes Bobrowskis. Seine Sprachempfindlichkeit konnte Kirsten ab 1962 durch die Mitarbeit am Wörterbuch der obersächsischen Mundarten schärfen, die es ihm ermöglichte, „abgesunkenes Wortgut wieder auszugraben und in die Poesiesprache als Kolorit und Stilschicht hineinzunehmen“. Angestachelt von so viel Mundartenkunde, begann Kirsten alsbald sprachkritische Fundbücher anzulegen und seltene Wörter seiner bäurischen Herkunftswelt darin zu archivieren.

In der DDR war Kirsten, der lange Jahre als Lektor im Aufbau Verlag in Weimar arbeitete, einer der ersten Dichter, der die Destruktivkräfte einer rücksichtslosen Industrialisierung anprangerte. Noch bevor in Deutschland das Wort vom „Waldsterben“ die Runde machte, schrieb Kirsten nicht nur sein Warngedicht über den zum „Bleibaum“ mutierten Apfelbaum, sondern registrierte auch die zerstörenden Kräfte, die Fische bäuchlings im Phenol-Fluß Elbe treiben ließen.

 

„Bei mir“, hat Kirsten in seiner Dankrede zum Peter-Huchel-Preis 1986 gesagt, „läuft so ziemlich alles auf Chronik und Lebensbericht hinaus.“ Dabei ist immer auch ein identifikatorisches Moment im Spiel: Kirsten versteht sich als „armer / karsthänse nachfahr“, empfindet heimatliche Gefühle bei der Begegnung mit dem „grobianischen scheffeldrescherdialekt“ und sucht die Duzbrüderschaft mit „den kutschern und kombinefahrern“. In den späten Gedichten ist die poetologische Maxime immer noch gültig, die Kirsten schon früh in Anlehnung an Johann Gottfried Herder beschrieben hat. Sein Ziel, so schreibt Kirsten in seinem Essay „Entwurf einer Landschaft“, sei eine auf „sinnlich vollkommene Rede abzielende Gegenständlichkeit, eine Mehrschichtigkeit, mit der soziale und historische Bezüge ins Naturbild kommen“. Die archivarische Wörter-Besessenheit führt mitunter dazu, dass die Wörter sich aus ihrem Naturzusammenhang lösen, sich zu autonomen Lautzeichen verselbstständigen und zu reiner Poesie werden. In seinen jüngsten Texten versucht Kirsten sich gegen die bittere Einsicht in die Verlorenheit der Welt durch eine emphatische „darbietung zirzensischer natur“ aufzulehnen.

Aber auch die „frohe Botschaft“ dieser Gedichte ist nur eine Einübung ins Verschwinden. In dem bereits 1978 geschriebenen Porträtgedicht auf Christian Wagner ist diese Vision eines möglichen Untergangs der „bewohnbaren erde“ schon präsent. Das lyrische Subjekt wendet sich von den satanistischen Nachtgesichten Christian Wagners ab und weist voller Sorge in die Zukunft: „vor tausend jahren aßen wir zu morgen. / aller lebendigen zukunftsform ist die bewohnbare erde, / gebüschig, mit einer krautschicht und von gras bewachsen. / sind wir auf hundert jahre noch geborgen?“

 

 

Zum Weiterlesen:

 

Erdlebenbilder. Gedichte aus fünfzig Jahren 1954–2004. Ammann, Zürich 2004. 416 Seiten, 24,90 Euro

Steinmetzgarten. Zwei Erzählungen. Verlag Ulrich Keicher, Warmbronn 2004. 32 Seiten, 10 Euro

Der Berg über der Stadt. Zwischen Goethe und Buchenwald. Texte. Ein Fotobuch von Harald Wenzel-Orf. Ammann, Zürich 2003. 160 Seiten, 22,90 Euro

Zwischen Standort und Blickfeld. Gedichte und Paraphrasen. Verlag Ulrich Keicher, Warmbronn 2001. 32 Seiten, 10 Euro

Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit. Erzählungen. Ammann, Zürich 2000. 220 Seiten, 18,50 Euro

 

Die Preisverleihung findet am Samstag, 22. 11. um 17 Uhr im Theater im Spitalhof in Leonberg statt. Die Laudatio hält Uwe Pörksen. Am Sonntag, 23. 11. liest Wulf Kirsten um 11.15 Uhr im Christian-Wagner-Haus in Warmbronn.

 

Michael Braun, Jahrgang 1958, lebt als Literaturkritiker für NZZ, Frankfurter Rundschau, Freitag und Deutschlandfunk in Heidelberg. Zuletzt erschien der von ihm zusammengestellte Deutschlandfunk-Lyrik-Kalender 2009 im Verlag das Wunderhorn.

 


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