Ausgabe: November/Dezember 2008 


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Goethe – mir grillt vor dir

Vom Frankfurter Würstchen zur Thüringer Bratwurst

 

Von Holger Dainat

 

„Über allen Gipfeln / Ist Ruh, / In allen Wipfeln / Spürest du / Kaum einen Hauch …“

Welchem Wanderer kommen diese Verse nicht in den Sinn, wenn er abends durch die sommerlichen Dörfer, Vorstädte oder Parkanlagen streift und ein Hauch von Rauch, von Gegrilltem in der Luft liegt? Ruhe kehrt ein, der Duft in der Luft weckt Appetit und mahnt an die Vergänglichkeit allen Fleisches. Ein Gleiches widerfährt dem Wanderer, wenn er in der kalten Jahreszeit durch die vorweihnachtlichen Innenstädte geht, wo sich die Leute um Holzkohlenfeuer scharen, um der Wurst und dem Glühwein zu huldigen. Entsagung fällt hier schwer. Feierlich wird einem zumute.

 

Doch wer mag da ahnen, dass die Menschen mit ihrem Feierabendritual an einen unserer größten Dichter und an eine der wichtigsten Epochen unserer Literaturgeschichte erinnern? Ihnen selbst ist es am wenigsten bewusst. Verargen kann man es ihnen nicht, versagen doch auch die Gebildeten unter den Kennern, wenn es um das Grillen der Würste als stille Dichterfeier geht. Nirgends spürt man deutlicher das Scheitern einer Goethe-Forschung, die sonst kein Fettnäpfchen auszulassen pflegt. Allein die Franken gedenken „des großen Dichters Drang zur Wurst“, um für ihre kleinen Nürnberger Rostbratwürste zu werben (www.die-nuernberger-bratwurst.de/index.php?id=65), die sich der Ururenkel eines fränkischen Gastwirts seinerzeit regelmäßig per Post nach Weimar schicken ließ.

 

Goethe und die Bratwurst – diese Konstellation führt unmittelbar ins Zentrum von Goethes Leben und Werk. Ihre Relevanz blieb der Wissenschaft lange verborgen, woran der Dichter eine Mitschuld trägt, hat er doch diese Beziehung nicht exponiert, sondern eher mystifiziert. Dabei spielt die Bratwurst in Goethes Biografie eine derart ausschlaggebende Rolle, dass wir sein Leben in zwei Phasen gliedern können: vor der Bratwurst – und nach oder besser: mit der Bratwurst. Noch 1829 – also fast schon auf dem Sterbebette, wo bekanntlich wahr gesprochen wird – gedenkt Goethe einer Begegnung in Nürnberg mit jenen „Bratwürstchen, welche dort so vorzüglich gut gefertiget werden ... mit Majoran gewürzt und ein wenig geräuchert“. Aus dieser späten Erinnerung spricht der Abglanz eines frühen Ur-Erlebnisses.

Doch der Reihe nach. Folgt man den belegten Würsten in Goethes Werken, das heißt den in der Weimarer Werkausgabe nachweisbaren Belegen für Würste, so häufen sich diese auffällig in den ersten Weimarer Jahren und hier wiederum besonders in den Briefen an Charlotte von Stein. Zu keiner anderen Zeit und in keinem anderen Textkorpus spricht der Dichter so häufig von den Würsten. Dieser Befund bestätigt die bekannte Tatsache, dass hier ein tiefer biografischer Einschnitt vorliegt. Mit Fug und Recht kann man von einem fundamentalen Paradigmenwechsel sprechen: Hier fand der Übergang vom Frankfurter Würstchen zur Thüringer Bratwurst statt.

Ohne diesen Wandel vom Gebrühten zum Gebratenen hätte es keine Weimarer Klassik gegeben – und was wäre dann aus Goethe geworden? Die Voraussetzungen für den Wechsel vom Gekochten zum Gegrillten und damit vom Sturm und Drang zur Klassik hat ganz wesentlich Charlotte von Stein geschaffen, wie unsere Belege bezeugen. In Goethes Briefen an die verehrte Freundin in den entscheidenden Jahren zwischen 1776 und 1778 ist immer wieder von Würsten, von Bratwürsten die Rede.

So heißt es bereits in Goethes Brief vom 8. Januar 1776: „ Ich muss Ihnen noch einen Danck für das Wurst-Andencken und eine Gute Nacht sagen.“ Am 13. März 1777 fragt er an: „Darf ich diese Nacht mit Ihnen essen? Zum Mittage bitt ich mir durch Überbringern eine Wurst oder so etwas zu schicken.“ Am 11. Februar 1778 wird die Verbindung von Wurst und geheimnisvollem innerem Wandel explizit angesprochen: „Ich fühle dass ich heute wieder im Verborgnen bleiben muss. Meine Küche giebt mir nur Erbsen und Wurst nach 12 schick ich Sie noch um einen Beytrag zu bitten. Es ist mir als wenn eine Verändrung in mir vorging ich weis sie aber noch nicht zu deuten.“ Dass es sich stets um Bratwürste und nicht etwa um Frankfurter Würstchen handelt, bestätigt schließlich der Brief vom 25. Februar 1778: „Nach Tische komm ich wohl, schicken Sie mir durch Überbringern meinen Schwartenmagen und eine Bratwurst.“ Dass Grillwürste gemeint waren, geht nicht zuletzt aus einer Anweisung des Ministers Goethe hervor, in der er sich über die Zweckentfremdung der Holzkohle für einen Schmelzofen beschwert. Der Politiker, Dichter und Mensch will dieses vorzügliche Brennmaterial einer edleren Bestimmung zuführen.

 

Goethes Beziehung zu Frau von Stein dreht sich zweifellos um die Bratwurst. Die tiefere Bedeutung kann allerdings nur ermessen, wer die Epoche des Sturm und Drang im Blick behält. Hier springt eine Verbindung von Wurst und Eheschließung ins Auge. Um 1775, also kurz vor der Übersiedlung nach Weimar, arbeitet Goethe an dem „mikrokosmischen Drama“ Hanswursts Hochzeit oder der Lauf der Welt. Muss man erwähnen, dass Hans eine Kurzform von Johann ist, dass auch diese Dichtung auf Johann Wolfgangs Wurst-Erlebnissen gründet? Im Eingangsmonolog heißt es:

„Es ist ein gross wichtigs Werck.

Der ganzen Welt ein Augenmerck

Dass Hanswurst seine Hochzeit hält

Und sich eine Hanswurstin zugesellt.“

Nun zeigt der Protagonist dieses Dramas alle Merkmale eines Sozialisationsdefizits. Er tritt ausgesprochen kraftgenialisch auf. Es mangelt ihm an Bildung, wie sein Vormund Kilian Brustfleck bekennen muss:

„Hab ihn gelehrt nach Pflichtgrundsäzzen

Ein paar Stunden hintereinander schwäzzen

Indess er sich am Arsche reibt

Und Wurstel immer Wurstel bleibt.“

Mit Wurst ist hier – wohlgemerkt – noch das Frankfurter Würstchen gemeint, wie der Sprachgebrauch im kurz zuvor entstandenen Götz von Berlichingen bestätigt, wo Liebe mit „gar kochen“ und eben nicht mit „grillen“ konnotiert wird. So sagt Sickingen zum Beispiel: „Es mag eine Zeit kochen. Bei Mädchen, die durch Liebesunglück gebeitzt sind, wird ein Heiratsvorschlag bald gar.“ Beim Hanswurst haben wir es folglich mit einer abgebrühten Fleischeslust zu tun, und das verheimlicht er keineswegs vor seinen illustren Hochzeitsgästen: „Indess was hab ich mit den Flege[ln] / Sie mögen fressen und ich will vögeln.“ Genau dieses abgebrühte Verhalten seiner Dramenfigur bringt der junge Goethe nach Weimar mit, um es mit dem jungen Herzog auszuleben. Das beobachten jedenfalls irritierte Zeitgenossen: „Es geht da [in Weimar] erschrecklich zu. Der Herzog läuft mit Goethen wie ein wilder Pursche auf den Dörfern herum; er besäuft sich und genießet brüderlich einerlei Mädchen mit ihm.“

 

In diese bedenklichen Verhältnisse greift Charlotte von Stein ein. Pikanterweise dürfte es in Kochberg gewesen sein, also in ihrem Wasserschloss, wo Goethe Bekanntschaft mit der Bratwurst machte. Die Ortsnamen sprechen, sie täuschen dabei jedoch über das Wesentliche hinweg und erleichtern damit den Übergang. Für die moderne Kulturwissenschaft handelt es sich um eine typische Schwellensituation. Das Gebratene bringt nunmehr Ruhe in Goethes Dasein; er wendet sich vom stürmischen Leben am stets sprudelnden Siedepunkt ab und dem juristischen Aktenstudium zu. In Versen wird er später diesen Paradigmenwechsel herunterspielen, indem er auf das Gemeinsame im Unterschiedenen und damit auf die Kontinuität im Wandel verweist: „Gesotten oder gebraten / Er ist an’s Feuer gerathen.“

 

Das Hochzeitlied, das als der klassische Gegenentwurf zu Hanswursts Hochzeit gelten muss, lässt keinen Zweifel an der neuen kulturellen Präferenz für das Gebratene. In der siebenten Strophe, die vom Hochzeitsmahl handelt, spricht der Dichter ausschließlich von Würsten und Braten, nicht jedoch von Gekochtem. Hier ließen sich noch weitere Texte anführen, in denen Goethe die durch das Grillen neugewonnene Lebensart propagiert. Ich beschränke mich auf die klassischen Verse: „Und bei dem Grillen der hübschen Frauen / Mußt du immer vergnüglich schauen.“ – An dieser Stelle ist allerdings eine textkritische Anmerkung unumgänglich. Die übliche Lesart „den“ im ersten der beiden zitierten Verse ergibt keinen rechten Sinn; ein erneuter, vorurteilsfreier Blick in die Handschrift dürfte bestätigen, dass es „dem Grillen“ und nicht „den Grillen“ heißen muss, dass also die gängigen Werkausgaben leider immer noch einen Druck- oder Schreibfehler verbreiten.

 

Nun ist die Wendung vom Sturm und Drang zur Klassik allein mit der Erfahrung der Bratwurst, wie sie Charlotte von Stein dem Dichter vermittelt hat, nicht zu erklären. Es kommt noch etwas hinzu, das zugleich den Bruch mit der Freundin herbeiführen wird. Die Tat bedarf der Zutat. Entscheidende Erlebnisse finden, wie nicht anders zu erwarten, in Italien statt. Sie haben mit der Bratwurst zunächst wenig zu tun, umso mehr aber mit dem Grillen. Der Kunstmaler Jacob Philipp Hackert macht Goethe in Neapel mit der dort üblichen Zubereitung des Thunfischs bekannt: „Er wird gemeiniglich bloß auf dem Rost in dünnen Scheiben gebraten und mit verschiedenen Saucen gegessen. Wenn er gebraten ist, hält er sich viele Tage und wird alsdann kalt mit Öl und Limonien genossen.“ Das Gegrillte bedarf der Sauce, um genossen zu werden. Goethes Genie macht daraus sofort eine Maxime, die über den konkreten Anlass weit hinausgeht und den Bezug zum Ur-Erlebnis der Bratwurst herstellt: „Wenige Liebhaber bedenken, daß man nicht gerade alles wie die Bratwurst in der Garküche vom Rost in den Mund nehmen kann; sondern daß Vorbereitung verlangt wird sowohl unserer als des Gegenstandes.“ Als eine Absage an die Bratwurst darf diese Maxime nicht gelesen werden, sondern kritisiert wird ihr Konsum als Fast Food und die mangelnde Bildung derer, die hier zu Werke gehen – sei es als Produzenten, sei es als Rezipienten.

Konsequent bereitet sich Goethe in Italien auf den neuen, durch die Zutat gesteigerten Genuss vor. Das musste zur Abwendung von der Puristin Charlotte von Stein führen. Dagegen gewinnt Christiane Vulpius mit des Senfes süßer Schärfe als Zutat zum Ur-Erlebnis Goethes Zuneigung. Die tiefe Sympathie seiner Mutter erringt die spätere Ehefrau, weil der Senf sich sowohl mit der Thüringer Bratwurst wie mit den Frankfurter Würstchen bestens verträgt, also eine harmonische Synthese des Getrennten ermöglicht und damit den geliebten Hätschelhans nicht länger von seiner heimatlichen Herkunft entfremdet. Darüber kommt es jedoch zum Bruch mit Frau von Stein; sie fordert ihre Briefe an Goethe zurück. Dass sie diese als Grillanzünder benutzt haben soll, lässt sich allerdings in keiner Weise bestätigen.

 

Wer indessen Goethes rastlosen Tätigkeitsdrang kennt, weiß, dass damit die Geschichte noch nicht zu Ende ist. Nach Christianes Tod beginnt der alte Goethe erneut zu experimentieren. Zunächst greift er Überlegungen Schillers zur Moderne als dem Zeitalter der Trennungen auf und verbindet sie mit den ästhetischen Verfahren der Romantiker. Zudem überträgt er die dabei gewonnenen Einsichten auf ein neues Material: Goethe fragmentiert die Bratwurst. Er zerstört damit jene Einheit, die keinen Anfang, wohl aber zwei Enden hat. Damit stellt sich das Problem des Zusammenhangs, das ja das Problem der Moderne schlechthin ist. Theoretisch hilft hier ästhetische Erziehung, praktisch zerfällt die Wurst aber in ihre Teile, die sich zu verselbstständigen drohen.

Was hält das Zerstückelte zusammen? Senf erweist sich als ein zu schwaches Bindemittel, eben weil es in seiner Schärfe zu stark ist. Andererseits bekommt Verdünnung, Verwässerung gar, weder der Kunst noch dem Genuss. Die Konzentration auf Heimisches erweist sich als zu eng. So wendet Goethe sich der Weltliteratur zu, der Weltgesellschaft. Nicht nur im und auf dem Divan erprobt er west-östliche Mischungen von Gewürzen. Häufiger als zu Christianes Lebzeiten sieht man Goethe in der Küche wirken. Ob ihm dabei bereits die Erfindung der Currywurst gelang, muss offen bleiben. Der Dichter hat sich darüber nicht geäußert, die Zeitzeugen schweigen. Goethe hat seine Erfahrungen auf diesem Felde sublimiert und vorzüglich im literarischen Bereich umgesetzt. Dessen ungeachtet stellt die Currywurst ein echt goethesches Dingsymbol für die Zusammengehörigkeit des Fragmentierten dar, das den Lebensgenuss unter den Bedingungen unserer fragilen Moderne betont. Und sie weist weit über Weimar und die Goethezeit hinaus – nach Berlin und in unsere Gegenwart.

Das letzte Wort über die hier ausgebreiteten und eingeschlichenen Wurstigkeiten gebührt Goethe:

„Gebraten oder gesotten!

Ihr sollt nicht meiner spotten.

Was ihr euch heute getröstet,

Ihr seid doch morgen geröstet.“

 

 

Holger Dainat, Jahrgang 1956, Literaturwissenschaftler mit ausgeprägtem Interesse an Merk- und Denkwürdigkeiten, lehrt zur Zeit in Bielefeld. Zuletzt erschien von ihm


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