In unerschütterlicher Undankbarkeit

Ein Porträt von Ruth Klüger 

Von Christiana Puschak

 

„Fremder als fern und auf eigenen Wegen

wirfst du dein Traumnetz, und was es dir einbringt,

hat Kummer im ziehenden Boot deiner Schläfen.“

 

Berühmtheit erlangte die Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin Ruth Klüger mit ihrem Erinnerungsbuch, das 1992 unter dem Titel weiter leben. Eine Jugend erschien.

Geboren wurde sie am 30. Oktober 1931 in Wien. Ihr Vater war Frauenarzt, Zionist, Mitglied einer schlagenden Verbindung und Sozialdemokrat; ihre Mutter Tochter eines ebenso wohlhabenden wie pedantischen Fabrikdirektors. Diese brachte aus ihrer ersten Ehe einen Sohn, Schorschi genannt, mit in die Familie, er überlebte den Holocaust nicht.

Ihre Heimatstadt Wien erlebte Ruth Klüger während der ersten elf Lebensjahre als „freudlos“, „kinderfeindlich“ und „judenkinderfeindlich“; ihr wurde erstmals das Ausgegrenztsein bewusst: „Juden und Hunde waren allerorten unerwünscht.“

1938, als Österreich dem Deutschen Reich „angeschlossen“ wurde, sah sich der Vater zur Flucht gezwungen. Warum er seine Tochter und seine Frau nicht mitnahm, sollte Ruth Klüger als quälende Frage ihr Leben lang begleiten. Seine Spur endet in dem Vernichtungslager Auschwitz.

Vier Jahre später wurde Ruth Klüger zusammen mit ihrer Mutter nach Theresienstadt deportiert, dem „Stall, der zum Schlachthof gehörte“, zu Auschwitz. Dass beide das Vernichtungslager und die Hölle Auschwitz überlebten, verdankte sich einem Zufall – der Möglichkeit zur Flucht bei der Verlegung im Februar 1945 –, den sie selbst „einen unbegreiflichen Gnadenakt“ nennt. Fast fünfzig Jahre später entschließt sie sich, ein Buch über ihre verlorene Kindheit und Jugend zu verfassen, das schonungslos und in beklemmender Weise die erfahrenen und erlebten Demütigungen, Grausamkeiten, Entrechtungen und Vernichtungen protokolliert. Ruth Klüger will gehört werden und sucht die Auseinandersetzung, „denn die Folter verläßt den Gefolterten nicht, niemals, das ganze Leben lang nicht“.

Dass sie Theresienstadt auch „geliebt“ hat, verdankt sie unter anderem der Begegnung mit dem Rabbiner Leo Baeck, der den drangsalierten Kindern die Schöpfungsgeschichte der Welt erzählte und ihnen Ablenkung von Not und Elend verschaffte.

Nach dem Krieg lebten beide in Straubing, wo Ruth Klüger 1947 ein Notabitur ablegte und sich an der Regensburger Universität in Philosophie und Geschichte einschrieb. Unmittelbar vor ihrer Ausreise nach Amerika begegnete ihr im Hörsaal der Universität Martin Walser, mit dem sie eine tiefe Freundschaft schloss und der bis zum Erscheinen von Tod eines Kritikers im Jahr 2002 ihre Verbindung zur deutschsprachigen Welt war. Die Freundschaft zerbrach an der Gestaltung der Figur des Kritikers als jüdisches Scheusal nach klassischem Muster. Ruth Klüger fühlte sich von dieser Art der Darstellung betroffen, gekränkt, beleidigt und verzieh ihm dieses Buch nicht, bedient es doch in primitiver Weise die Klischees der Judenverachtung. In unterwegs verloren, der Fortsetzung ihres Lebensrückblicks, dokumentiert sie dieses Zerwürfnis.

In Amerika lernte sie Tom Angress kennen, einen aus Berlin geflohenen, elf Jahre älteren, angesehenen Historiker, der wie sie „das Dunkel jener Jahre“ erlebt hatte und mit dem sie hoffte, die Trostlosigkeiten überwinden zu können; als Basis für eine lebenslängliche Beziehung war dies zu wenig, fühlte sie sich doch an seiner Seite einsamer als vorher oder nachher: „Ich war neun Jahre lang verheiratet und am Ende der Ehe kam es mir vor, als falle ich aus dem Gefrierfach des Küchenkühlschranks heraus, um endlich aufzutauen.“ Sie zog es vor, aus dem Kreis der „Fakultätsfamilien“ ausgestoßen zu werden, statt in der Rolle eines Anhängsels oder einer „Hausangestellten des Professors“ zu verbleiben. Nach der Trennung von ihrem Mann begann sie als alleinerziehende Mutter zweier Söhne wieder zu studieren, verdiente ihren Unterhalt als fahrende Bibliothekarin und schrieb Gedichte, „um das Gleichgewicht wiederherzustellen“:

Ich sprech dich an, als hättst du widersprochen,

Und spreiz die Hände über Sarg und Erde,

Und sag dir, daß ich weiterreden werde.

 

Ihr steiniger, von Benachteiligungen, Diskreditierungen und Herabsetzungen gepflasterter Weg zur und als Literaturwissenschaftlerin in einer weitgehend von Männern dominierten Universitätswelt lässt sich in ihrer Autobiografie nachlesen; auch wie sie den verschiedenen Spielarten des amerikanischen Antisemitismus ausgesetzt war, Anfeindungen über sich ergehen lassen musste: „Jede Diskriminierung schnitt mir ins eigene Fleisch.“ Ihr gegenüber wurden gehässige Vorwürfe erhoben, „weil ich offen zur Schau trüge, was die Nazis mir angetan hätten“, nämlich ihre KZ-Nummer. Sie stellte sich den Gewalttätigkeiten, die ihr als Jüdin und als Frau begegneten, mutig entgegen und erwehrte sich der infamen Angriffe öffentlich: „Ich bin über das normale Maß beleidigt worden und möchte das mit einem kämpferischen Einsatz klarstellen, nicht nur zahm zu Protokoll geben.“

1967 schrieb sie ihre Dissertation über das barocke Epigramm bei Blake Spahr, obgleich sie lieber bei Heinz Politzer über Lessing promoviert hätte, der ihr aber eine akademische Laufbahn als „Frau Dilettantin“ nicht zutraute. Über die Universität von Cleveland, wo sie die Anfänge der Frauenbewegung erlebte, und die Princeton University kam sie nach Irvine, wo sie an der California University als Ordinaria für Germanistik lehrte und jahrelang die amerikanische Literaturzeitschrift German Quarterly herausgab.

 

Ihre Wiederannäherung an die Alte Welt und an Deutschland folgte aus der Teilnahme an einem internationalen Germanistenkongress 1985 in Göttingen. Dort hielt sie einen Vortrag über jüdische Gestalten in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts, um die Tradition des Antisemitismus aufzudecken, der selbst bei renommierten Dichtern zu finden war.

In Göttingen wurde nicht nur die verschüttete Europäerin wieder lebendig, sondern es entwickelte sich eine Beziehung zu diesem Ort, „die man […] eine späte Liebe nennen kann“. Aber auch hier war sie antisemitischen Ausfällen und offen zur Schau getragener Frauenverachtung ausgesetzt. In der sogenannten „Schmierfink-Affäre“ zog eine feministisch angehauchte Passage in einem ihrer Essays nicht nur die Wut eines Göttinger Wissenschaftlers auf sich, sondern sie musste sich sogar vorwerfen lassen, dass die Art, wie sie schreibe, die von Schmierfinken sei – ein in der Nazizeit auf jüdische Publizisten angewandter Ausdruck. Trotzdem nahm sie eine ihr angebotene halbjährliche Gastprofessur in Göttingen an und schrieb ihr Buch weiter leben, das der Wallstein Verlag 1992 veröffentlichte. Es wurde im „Literarischen Quartett“ mit Lob überschüttet und zu einem Bestseller.

Seither ist sie als Vortragende und als Zeitzeugin gefragt und wird mit Ehrungen bedacht, unter anderem dem Österreichischen Staatspreis für Literaturkritik, dem Rauriser Literaturpreis, dem Marie-Luise-Kaschnitz-Preis, dem Thomas-Mann-Preis, der Goethe-Medaille und der Ehrendoktorwürde der Georg-August-Universität Göttingen sowie dem Lessing-Preis des Freistaates Sachsen. Im Mai 2009 wird sie als erste Gastprofessorin des nach Marcel Reich-Ranicki benannten Lehrstuhls für Deutsche Literatur an der Universität zu Tel Aviv Vorlesungen halten.

 

Von diesen Auszeichnungen lässt sie sich in ihrer Haltung nicht beirren, unbeugsam ehrlich sich selbst und anderen gegenüber zu sein und, wenn nötig, in „unerschütterlicher Undankbarkeit“ zu verharren. Neben ihren Erinnerungsbüchern sollten auf keinen Fall ihre ungewöhnlich brillanten Essays und germanistischen Studien – Gemalte Fensterscheiben und Gelesene Wirklichkeit – vergessen oder vernachlässigt werden. In ihnen präsentiert Ruth Klüger ihren eigenwilligen, aus Erfahrungen gespeisten Blick auf die Literatur und vermittelt anschaulich und lebendig ihre Lesart poetischer Texte. Für sie, die sich als Unbehauste empfindet, bietet allenfalls die Literatur eine Heimat. Bereits im Konzentrationslager halfen ihr die auswendig gelernten Gedichte eine Art Gegenwelt zum Grauen aufzubauen und das Rettende erahnen zu lassen, gemäß den berühmten Versen aus Hölderlins „Patmos“, einem ihrer Lieblingsgedichte: „Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch.“ Seither gilt ihre besondere Liebe der Lyrik, sei es, dass sie eigene Gedichte verfasst oder fremde deutet. Diese Interpretationen besitzen eine provozierende Kraft, laden zum Mit- und Weiterlesen ein und faszinieren durch ihre scharfsinnige Argumentation. Viele dieser Kommentare finden sich in der „Frankfurter Anthologie“.

Ruth Klüger besitzt die Courage, wider den Strich zu lesen. Dass ein weiblicher Blick auf die Werke männlicher Schriftsteller, darunter Goethe, Kleist, Stifter, Schnitzler und Kästner, manches Verdeckte erhellt und über Stereotypisierungen in deren Texten aufklärt, zeigt sie in dem Band Frauen lesen anders. Dass Frauen anders lesen (und schreiben), liege, so Klüger, daran, dass ihr kulturelles Erbe, ihre Schaffensbedingungen und Denkstrukturen anders als die der Männer seien – ein anderes Leben bedinge eben auch ein anderes Lesen.

 

Zum Weiterlesen:

 

weiter leben. Eine Jugend. dtv, München 1999. 284 Seiten, 7,90 Euro

unterwegs verloren. Erinnerungen. Zsolnay Verlag, Wien 2008. 238 Seiten, 19,90 Euro

Frauen lesen anders. dtv, München 2007. 236 Seiten, 9,50 Euro

Gemalte Fensterscheiben. Über Lyrik. Wallstein Verlag, Göttingen 2007. 264 Seiten, 22 Euro

Gelesene Wirklichkeit. Fakten und Fiktionen in der Literatur. Wallstein Verlag, Göttingen 2006. 220 Seiten, 22 Euro

Renata Schmidtkunz, Im Gespräch – Ruth Klüger. mandelbaum Verlag, Wien 2008. 63 Seiten, 15,00 Euro

 

Christiana Puschak studierte Psychologie und Literaturwissenschaft. Sie lebt und arbeitet als Psychologin und freie Autorin mit Schwerpunkt Exilforschung in Berlin.