Ausgabe: Januar/Februar 2010 


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Thomas Mann in Stuttgart – der ganz andere Besuch

Von Fritz Endemann

 

Es war ein guter Gedanke, im Schillerjahr 2009 auch daran zu erinnern, dass Thomas Mann im Mai 1955 – wenige Monate vor seinem Tod – im Großen Haus der Württembergischen Staatstheater den Festvortrag zum damaligen Schiller-Jubiläum hielt. Die Ausstellung darüber im Stuttgarter Literaturhaus mit bisher nicht gezeigten Fotografien von Hannes Kilian (Literaturblatt 5/2009) ist bis Ende Januar verlängert.

 

Einer Erwähnung wäre wert gewesen, dass der Besuch Thomas Manns 1955 nicht der erste in Stuttgart nach dem Krieg war. Schon sechs Jahre zuvor, am 27. und 28. Juli, hatte das Ehepaar Mann auf dem Weg von Frankfurt nach München und Weimar 1949 hier Station gemacht. In Frankfurt war Thomas Mann der Goethepreis der Stadt, in Weimar der „Goethe-Nationalpreis“ der entstehenden DDR verliehen worden; an beiden Orten hatte der Dichter die Ansprache im Goethejahr gehalten.

 

Die beiden Stuttgarter Besuche konnten nicht unterschiedlicher sein. 1955: eine Art Staatsakt mit Bundespräsident Theodor Heuss und Ministerpräsident Gebhard Müller, eine von den Worten und dem Auftreten des Gastes ergriffene Festversammlung, dazu drei Tage in Stuttgart und Marbach mit außerordentlicher öffentlicher Resonanz. Der Besuch sei Sinnbild für die geistige Heimkehr Thomas Manns nach Deutschland gewesen, schreibt der damalige Direktor des Schiller-Nationalmuseums Bernhard Zeller in seinen Marbacher Memorabilien.

Hingegen 1949: ein nichtöffentlicher, fast heimlicher Aufenthalt allein beim Stadtoberhaupt; die Stuttgarter erfuhren nichts, es gab keine Ankündigung, keinen Bericht in den Zeitungen, kein Publikum. Es existiert, soweit ersichtlich, nur eine halbwegs ausführliche Quelle dazu: die Reisebeschreibung des Schweizer Industriechemikers Georges Motschan (1920-1989), der schon als Schüler Kontakt zu dem von ihm verehrten Thomas Mann aufgenommen und sich nun erboten hatte, das Ehepaar Mann in seinem geräumigen Buick nach Frankfurt und Weimar zu chauffieren. Den Reisebericht hat Motschan 1988 unter dem Titel Thomas Mann – von nahem erlebt veröffentlicht.

 

Zu Stuttgart hatte Thomas Mann zuvor keine nähere Beziehung, obwohl er vor 1933 mehrmals auf Vortragsreisen dorthin gekommen war. Was Arnulf Klett jetzt zu der Einladung bewog, war wohl kaum ein besonderes literarisches Interesse, eher die Absicht, seine Bemühungen um die Kultur in der Stadt mit großen Namen zu schmücken. Jedenfalls dürfte der Besuch 1949 hauptsächlich dem Schriftsteller und Übersetzer Hans Reisiger zu danken sein, der damals in Stuttgart lebte. „Reisi“ war ein vertrauter Freund der Familie seit frühen Münchener Tagen. Zur Emigration konnte er sich nicht entschließen, obwohl Thomas Mann eine Universitätsstelle in den USA für ihn besorgt hatte. Nach dem Krieg war die Beziehung schnell wiederhergestellt; dabei nahm Reisiger es nicht nachhaltig übel, dass Thomas Mann im Doktor Faustus Porträtzüge von ihm der Figur des Rüdiger Schildknapp verliehen hatte. Im Vorfeld seiner ersten Deutschlandreise ließ Thomas Mann den Freund an seinen zwiespältigen Überlegungen und Gefühlen gegenüber den Deutschen brieflich teilnehmen. Wenn er schrieb, die Verleihung des Goethepreises durch die Stadt Frankfurt sei, wie die Dinge lägen, eine „tapfere“ Handlung, so war sein Kommen nicht minder tapfer. Der Emigrant und Mahner, der aus seinem Hass gegen Deutschlands Verderber keinen Hehl gemacht und eine Rückkehr aus respektablen Gründen abgelehnt hatte, musste mit Demonstrationen bornierten Unverständnisses und postnazistischen Feindseligkeiten rechnen, die 1949 und auch noch 1955 nicht ausblieben. Bei seinem Aufbruch am 23. Juli 1949 notierte er im Tagebuch: „Gefühl, als ob es in den Krieg ginge“.

 

Reisiger fand sich als Freund zum ersten Wiedersehen in Frankfurt ein, doch auch als Abgesandter seines Oberbürgermeisters, um das Kommen der Manns sicherzustellen. Mit ihnen fuhr er dann nach Stuttgart. Der Ablauf des Besuches ist schnell berichtet: Eine Gesellschaft, die Klett für würdig befunden hatte, erwartete die Manns in der „Elsässischen Taverne“ in der Olgastraße 18. Klett hielt eine vorbereitete Begrüßungsrede, Thomas Mann eine Erwiderung aus dem Stegreif. Von dieser sei, wie Motschan berichtet, die Gesellschaft verzaubert, ja hingerissen gewesen. Der Berichterstatter bedauert wohl zu Recht, dass von dieser Rede nichts festgehalten wurde.

 

Quartier nahm man im damaligen Gästehaus der Stadt in der Stafflenbergstraße 24. Bei der anschließenden Stadtbesichtigung im Autokonvoi wurde den Manns als eine Hauptsehenswürdigkeit die „Trümmerverwertungsanlage“ beim Hegelplatz vorgeführt, ein knitzer Einfall angesichts der in Trümmern liegenden Innenstadt. Thomas Mann zeigte sich denn auch beeindruckt und amüsiert: „Wie deutsch, ach wie deutsch das doch alles ist.“ Anschließend ging es mit Dienstwagen und livriertem Chauffeur nach Cannstatt und Rotenberg. Man kehrte in „ein wunderschönes Restaurant urdeutschen Charakters“ ein, möglicherweise war es die heute nicht mehr bestehende „Krone“ in Rotenberg.

Am nächsten Morgen kam Klett zum Abschied ins Gästehaus. Er brachte eine Polizei-Motorradeskorte mit, die den Schweizer Wagen bis zur Autobahn nach München begleitete. So verließ der deutsche Dichter bei seinem ersten Deutschlandbesuch nach sechzehn Jahren Exil unerkannt die Stadt, doch immerhin so, dass die Bürger ihn für einen fremden Potentaten halten mussten – der Vorgang entbehrt nicht der Ironie.

 

Ein Echo hatte dieser Stuttgarter Besuch kaum. In dem die Reise zusammenfassenden Tagebucheintrag vom 4. August 1949 wird Stuttgart nur eben erwähnt. Der Reisebericht Germany today vom 25. September 1949 für das New York Times Magazine zeichnet ein eher düsteres Gesamtbild von der Uneinsichtigkeit und dem Selbstmitleid der Mehrheit der Deutschen, hebt aber die Oberbürgermeister von Frankfurt, Stuttgart und München hervor: „[they] work earnestly and honestly for the moral and material recovery of their country in a democratic sense“.

In diesem Zusammenhang ist es merkwürdig, dass auf der ganzen Reise durch Westdeutschland so gut wie keine Berührung mit politischen Repräsentanten stattfand, vermutlich weil damals so mancher Politiker sich nicht durch eine Begegnung mit Thomas Mann exponieren wollte. 1955 war das schon anders, doch Ressentiments begleiteten ihm noch länger. Es hatte – nach den Worten seines Sohnes Golo – seinen Grund darin, dass der große Bürger mit seinem entschiedenen Nein zur braunen Barbarei dem deutschen Bürgertum ein Beispiel gegeben hatte, dem dieses hätte folgen sollen, folgen müssen.

 

 

Zum Weiterlesen:

Georges Motschan, Thomas Mann – von nahem erlebt. Verlag der Buchhandlung Matussek, Nettetal 1988. 152 Seiten, 24,50 Euro

 

„Thomas Mann – Hans Reisiger. Briefe aus der Vor- und Nachkriegszeit“ aus den Beständen des Thomas-Mann-Archivs der ETH Zürich, vorgelegt von Hans Wysling. In: Blätter der Thomas Mann Gesellschaft Zürich Nr. 8, 1968

 

Kurt Sontheimer, Thomas Mann und die Deutschen. München 1961

 

Helmut Böttiger, Thomas Mann in Stuttgart. Verlag Ulrich Keicher, Warmbronn 2010. 32 Seiten mit einer Fotobeilage von Hannes Kilian, 14 Euro

 

 

Fritz Endemann lebt als Jurist in Stuttgart. Veröffentlichungen und Vorträge vor allem zur Landesgeschichte und zur juristischen Zeitgeschichte, aber auch zu literarischen Themen. Zuletzt erschien ein Essay über die Justiz des Terrors in Stuttgarter NS-Täter. Vom Mitläufer zum Massenmörder (Schmetterling Verlag, 2009).


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