Geschichtete Wahrheit

Die Schriftstellerin und Buchkünstlerin Roswitha Quadflieg

Von Susanne Fritz

 

Auch wenn sie mit einem Punkt enden, werfen ihre Sätze Fragen auf – Roswitha Quadfliegs Literatur taugt nicht für Gemütlichkeit und Weltflucht. Sie schreibt schmale Bücher in schlanker Sprache voller Substanz. Bei allem Ernst ihrer Themen gelingen ihr spannende, unterhaltsame Texte, wenn der Leser hinter Wörter, Fassaden, vermeintlich gesicherte Fakten zu schauen bereit ist, wenn er sich für Individuen interessiert, die unverstanden durchs gesellschaftliche Raster ihrer Zeit fallen. Es sind anspruchsvolle Seiten für Genießer, für Leser, die nicht schlingen, denn Quadfliegs Stoffe sind sorgfältig zubreitet.

 

Die 1949 in Zürich geborene und in Hamburg aufgewachsene Autorin ist eine Spurensucherin. Sie sammelt, recherchiert, liest und notiert. Sie nimmt Witterung auf und Wege auf sich. Sie lernt Menschen kennen, befragt sie, begibt sich in Archive, wälzt Nachlässe. Da sie Künstlerin ist und nicht Historikern, nimmt sie ihre Phantasie und Vorstellungskraft hinzu, denn nur über die eigene Sensibilität und Verletzbarkeit können ihr diese Annäherungen gelingen, die Einfühlung in fragile Persönlichkeiten, der Nachvollzug holpriger Lebenswege. Quadfliegs Protagonisten sind – ob von der Autorin imaginiert oder der Wirklichkeit entnommen – biografisch derart glaubwürdig, dass man sie für reale Menschen, nicht für literarische Figuren hält, ihnen begegnen könnte, womöglich schon begegnet ist.

Etwa Benjamin Winkler, 28 Jahre alt, Epileptiker, Straßenmusikant und Sozialhilfeempfänger in Wer war Christoph Lau? Eines Tages bekommt er zwei Briefe, die ihn auf die Spur seines (inzwischen verstorbenen) Vaters und seiner vier Halbgeschwister bringen. Der junge Mann sucht seine unerwartet hinzugewonnene Verwandtschaft der Reihe nach auf und findet wenig Gemeinsames. Sein Vater, Christoph Lau, war ein Sonderling, der Franz Kafka seinen einzigen Freund nannte und dessen berühmten Brief an den Vater zum erschütternden Brief an die Kinder umschrieb: „Jedenfalls waren wir so verschieden und in dieser Verschiedenheit einander so gefährlich, dass ich manchmal gefürchtet habe, Ihr würdet mich eines Tages niederstampfen […].“ Lau war sein Leben lang auf der Flucht vor seiner Familie, in seinem außerehelichen Sohn findet er postum einen Geistesverwandten.

 

In Requiem für Jakob begegnet der Leser Jakob Birnbaum, der Länder und Identitäten, Namen und Lebensläufe, Religionen und Berufe wechselt, je nach Situation. Birnbaum ist deutsch-französischer Jude und er ist ein Charmeur, Hochstapler, Mythomane. Als Dieb, Betrüger und Fälscher verbringt er dreiunddreißig Jahre hinter Gittern und arbeitet danach, im reifen Alter, als Fotomodell. Er zeigt sich gern, hat ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Rampenlicht. Jakob Birnbaum war ein Leben lang Täter und Opfer und weder das eine noch das andere, er war ein Mensch ohne verlässliche Identität, ein Chamäleon. Jakob: Sein Name ist von der Autorin erfunden, seine Biografie ist real, Roswitha Quadflieg hat sie in einem geistigen Abenteuer der besonderen Art über Jahre hinweg akribisch rekonstruiert. In ihrer Spurensuche gewinnen die Verwicklungen und Verbrechen deutscher Geschichte am Beispiel eines widerspruchsvollen Menschen so absurde wie konkrete Züge.

 

Auch Ekkehart Valentin Q., von Beruf Busfahrer, der mit dem Fahrrad tödlich verunglückt, ein „verhinderter Behinderter“, hat wirklich gelebt, er war ein Bruder der Autorin. Der Tod meines Bruders ist ein sich vorsichtig und unbeirrbar vorantastender Text. Träume und Erinnerungen an gemeinsame Kindheitserlebnisse offenbaren darin die besondere Verbindung zwischen Schwester und Bruder und verleihen der faktischen Welt der (gestörten) Familienbande einen fragilen, existentiellen Sinn. Das Porträt eines weltfremden, unsteten Menschen, der in der Welt der Normalbürger und ihrer Konventionen nicht zurechtkommt, entsteht nach und nach vor dem inneren Auge des Lesers, der den Verstorbenen aus den verschiedenen Blickwinkeln seiner Angehörigen und Bekannten erlebt.

Es war Quadfliegs mutiges Debüt, denn mit dem jetzt erst veröffentlichten Prosaband betrat sie das sensible Feld der eigenen Familie. Auch der Vater, der berühmte Schauspieler Will Quadflieg, spielt im Buch seiner Tochter mit, unfreiwillig und nicht eine seiner Glanzrollen. Die Verantwortung für den offenen, an keiner Stelle denunziatorischen Text nimmt die Schriftstellerin auf sich, nennt das Buch im Untertitel „Die subjektive Wahrnehmung einer Familie“.

 

Kommen wir von ihrem Erstling zu ihrem im Herbst 2009 erschienenen jüngsten Roman Der Glückliche. Hier begegnen wir Leopold Wagner, einstiger Stadtarzt von Speyer, der gegen den Papst polemisiert und Adolf Hitler beleidigt. So einen nannte man damals einen „Querulanten“. Der Nazijustiz entkommt Wagner dank der Diagnose eines Gutachters, der dem Uneinsichtigen Schizophrenie bescheinigt. 72-jährig, drei Tage nur nach seiner Entlassung aus der Psychiatrie, verunglückt Leopold Wagner auf einer Wanderung im Stubaital tödlich. Handelte es sich bei dem authentischen Fall, den die Autorin mit dramaturgischem Geschick aufrollt, um einen Unfall, Mord oder Suizid?

Aus zehn Stimmen ergibt sich die Annäherung an das Geschehen, doch keiner der Befragten, weder die Ehefrau, die Kinder, Leopolds Schwester, noch der Rechtsanwalt, der Arzt oder Mitpatienten, kann über den Toten sprechen, ohne von sich selbst zu reden – und dabei ignorieren und verschweigen sie alle, was ihre eigenen Interessen gefährden könnte. Die Stimmen werden im Kopf des Lesers laut, der sich unter dem Ansturm gegenseitiger Bezichtigungen zu drehen beginnt. Die einzelnen Aussagen und Urteile über das wahre Wesen des Verunglückten könnten nicht widersprüchlicher sein: Wo beginnt die Wahrheit, wo der Wahn des Einzelnen? Sind wir derart von uns selbst besessen, dass wir ewig füreinander blind bleiben?

 

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Roswitha Quadflieg im Gespräch

 

Susanne Fritz: Lese ich deine Texte, weiß ich nicht mehr, wer ich bin, wer die anderen sind. Urteile geraten ins Wanken. Das Eis, über das wir Menschen gehen, erscheint dünn, droht bei der nächsten Bewegung einzubrechen. Die Bedrohung kommt entweder von innen als persönlicher Zweifel, Furor, Andersartigkeit, oder sie kommt von außen in Form von gesellschaftlicher Gewalt und Willkür. Wie entgeht man ihr? Auch bürgerliche Strategien, ökonomisches Geschick können einen nicht dauerhaft vor dem geistigen, körperlichen oder emotionalen Zerfall bewahren. Du schreibst von der „Dünnwandigkeit von Familie, Karriere, Beruf“.

 

Roswitha Quadflieg: Es ist so. Die sogenannte Normalität ist anstrengend; ungeheuerlich. Selbst die Familie ist kein sicherer Hort.

 

SF: Du warst eine überaus originelle und erfolgreiche Buchkünstlerin. Dreißig Jahre warst du in der von dir gegründeten Raamin-Presse verantwortlich für Gestaltung, Satz und Druck von Texten der Weltliteratur und eigene Originalgrafiken in limitierten Auflagen. Deine Editionen sind wertvolle Liebhaberstücke, bis auf zwei sind alle leider längst vergriffen. Deine Illustrationen zu Michael Endes Welterfolg Die unendliche Geschichte kennt jedes Kind. Du hast dich bereits als Grafikerin intensiv mit Literatur beschäftigt. Was gab schließlich den Anstoß, selbst zu schreiben?

 

RQ: Der Tod meines Bruders. Den wollte ich begreifen. Mit Bildern kam ich da nicht weiter. Erst beim Formulieren, beim Wortefinden, kam ich dem Geschehen näher. Schreiben ermöglicht genaueres Denken. Das Ringen um die immer präzisere, letztlich zutreffende Formulierung ist faszinierend. Ein Sog, der bis heute anhält. Ich frage ja nur, gebe keine Antworten und frage immer weiter ...

 

SF: Deine Spurensuchen durchs eigene und fremde Leben erinnern mich an Druckverfahren, das Bild entsteht nach und nach, Schicht um Schicht, die einzelne Ebene ist für sich genommen lückenhaft, provisorisch, das fertige Bild ergibt sich erst im Zusammenspiel mehrerer Ebenen. Was verbindet die Tätigkeit der Autorin mit der der Grafikerin und Herstellerin?

 

RQ: Beiden Tätigkeiten liegt ein Handwerk zugrunde. Es geht also ein wenig zu wie bei einem Hausbau. Überlegung, Planung. Die Räume, den Ausgang. Achtzehn Jahre lang betrieb ich beides parallel. Bis es zu viel wurde, das Gepäck zu schwer. Mein grafischer Beruf war auch körperlich sehr anstrengend. Und die Ideen für das Schreiben stapelten sich. Also habe ich mich entschieden, meinen ersten Beruf aufzugeben.

 

SF: Du bist äußerst produktiv, schreibst nicht nur Prosa, auch Theaterstücke, Hörspiele, Drehbücher.

 

RQ: Das eine ergibt sich manchmal aus dem anderen. Und jede Form stellt eine eigene Herausforderung dar, ich lerne dazu. Das alles ist sehr spannend.

 

SF: Für Requiem für Jakob hast du, wie du sagst, dein Leben auf den Kopf gestellt, um den Spuren eines Unbekannten zu folgen. Was hattest du zu Beginn deines Abenteuers in der Hand?

 

RQ: Ein Rätsel. Eine rätselhafte Biografie. Ein Mann, von dem mir berichtet wurde und bei dem irgendetwas „nicht stimmte“. Ein alter Herr, der zuletzt als Fotomodell arbeitete, ein Jude. Mein Leben und meine Arbeit hatten sich damals mehr oder weniger in einem Haus abgespielt. Dieses musste ich verlassen, um seiner Spur zu folgen. Ich nahm die Fährte eines mir Unbekannten auf – und lief plötzlich in Paris herum, beschäftigte mich mit Themen, von denen ich bis dahin keine Ahnung hatte, zum Beispiel den Gräueln der Nazis in Paris. Wenn ich geahnt hätte, was für eine Fülle an Material sich da auftun würde, hätte ich mich wohl nicht an das Thema gewagt. Dank Jakob Birnbaum bin ich dem ganzen vergangenen Jahrhundert begegnet.

 

SF: Zu Fabels Veränderung hast du vermerkt, du wolltest „Empfindungen wecken für das Leben eines Menschen, für seine Einmaligkeit, für alles, was verloren geht, ihm – und anderen, wenn man ihn dieses Leben nicht leben lässt“. Du betrachtest ganz individuelle Geschichten und Schicksale mit dem Vergrößerungsglas.

 

RQ: Um das Archetypische an ihnen zu zeigen. Jeder Mensch geht durch zwei große Tore, wird geboren und stirbt. Dazwischen liegt sein Leben. Mich interessiert, wie die eigene Biografie mit dem Zeitgeschehen zusammenhängt. Wirst du gelebt oder gestaltest du selbst? Das sind Fragen, die uns alle betreffen. Als meine Mutter mit mir schwanger war, rieten die Ärzte aus gesundheitlichen Gründen dringend zum Abbruch. Sie hatte bereits vier Kinder. Sie hätte bei meiner Geburt sterben können. Trotzdem hat sie anders entschieden, gegen die Vernunft. Und ich wurde geboren. Sehr spannend, an welch seidenem Faden die eigene Existenz hängt.

 

SF: Leopold Wagner in Der Glückliche überlebt Nationalsozialismus und Krieg in der Psychiatrie. Als Eingesperrter hat er „Glück gehabt“, aber am dritten Tag nach seiner Entlassung kommt er ums Leben. Eine solche Geschichte können wir uns nicht ausdenken, es ist ein authentischer Fall. Der Rechtsanwalt räsoniert am Schluss: „Und was eigentlich ist Glück? Das Leben hat so viele Gesichter. Die Messlatte ist das Entscheidende ...“. Was macht dich glücklich?

 

RQ: Nicht verloren, das heißt der Welt ohnmächtig ausgeliefert zu sein. Nicht von den Geschehnissen überrollt zu werden – einen eigenen Standort zu finden. Das ist Glück. Auch Liebe und Vertrauen fußen darauf. Daneben gibt es Glücksmomente, einen Sonnenuntergang erleben, Musik.

 

Zum Weiterlesen:

 

Fabels Veränderung. Roman. Arche Verlag, Zürich 1996 (antiquarisch)

 

Wer war Christoph Lau? Roman. Arche Verlag, Zürich 1996 (antiquarisch)

 

Alles Gute. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1999 (TB 2001). 155 Seiten, 8,50 Euro

 

Requiem für Jakob. Eine Spurensuche. Die Andere Bibliothek im Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2005. 342 Seiten mit zahlr. Abb., 28,50 Euro

 

Beckett was here. Hamburg im Tagebuch Samuel Becketts von 1936, mit zum Teil bisher unveröffentlichten Schwarzweiß-Fotos. Hoffmann und Campe, Hamburg 2006. 224 Seiten, 19,95 Euro

 

Der Glückliche. Roman zu zehn Stimmen. Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 2009. 120 Seiten, 14,80 Euro

 

Der Tod meines Bruders. Die subjektive Wahrnehmung einer Familie. Ein Bericht. Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 2010. 120 Seiten, 14,80 (erscheint April)

 

Michael Endes Die unendliche Geschichte in der Gesamtgestaltung und mit Illustrationen von Roswitha Quadflieg feierte 2009 ihr 30-jähriges Jubiläum. Aus diesem Anlass legte der Piper Verlag das Original von 1979 mit einem Nachwort von Roman Hocke als Taschenbuch neu auf.

 

Roswitha Quadflieg liest am 22. April in Kooperation mit dem Literaturblatt im Stuttgarter Schriftstellerhaus

 

www.roswithaquadflieg.de (dort kann man auch vergriffene Raamin-Presse-Publikationen bestellen)

 

Susanne Fritz lebt als Autorin und Regisseurin in Freiburg. 2009 erschien ihr zweiter Roman Die Hitze ließ nur die Dinge im Verlag Klöpfer & Meyer, Tübingen.