Aus der Distanz Nähe herstellen

Ein Porträt von Barbara Beuys anlässlich ihrer neuesten Biografie über Sophie Scholl

 

Von Ulrike Frenkel

 

Sie hat insgesamt sechzehn Bücher veröffentlicht, darunter große Biografien über Annette von Droste-Hülshoff und Hildegard von Bingen. Barbara Beuys muss sich bei ihren Verlagen, Rowohlt und Hanser, längst nicht mehr rechtfertigen, wenn sie ein neues Projekt angehen will.

Wie sie zu ihren Themen findet, oder diese zu ihr? An Sophie Scholl zum Beispiel, die Hauptfigur ihrer jüngsten Veröffentlichung, sagt die 66-Jährige, sei sie über einige Umwege gekommen. Sie ahnte nicht einmal, dass sie sich ungefähr zum selben Zeitpunkt für die junge Frau zu interessieren begann, zu dem erstmals der Nachlass von deren Schwester Inge Aicher-Scholl einsehbar wurde. Schon seit ihrer vorherigen Arbeit über die Malerin Paula Modersohn-Becker hatte Beuys Geschmack an der Idee gefunden, biografisch im 20. Jahrhundert vorwärts zu gehen: „Ich wollte nicht wieder zurück ins Mittelalter oder ins Barock“, erklärt sie. Über Menschen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus war schon 1987 ein Buch von ihr erschienen, und dadurch sei ihr eben Sophie Scholl als Person wieder in den Kopf gekommen. 2005 begann sie deshalb im Internet zu recherchieren und erfuhr so, dass die Sammlung, die unter anderem Inge Aicher-Scholls Tagebuch sowie zahlreiche Briefe aus dem weiteren Familienkreis enthielt, im Münchner Institut für Zeitgeschichte lagert. „Dann bin ich nach München gefahren und hab’ gefragt, ob da jemand dran sitzt.“ Was nicht der Fall war und für die Kölnerin eine ganz neue Herausforderung brachte.

Denn plötzlich ging es nicht mehr wie bei ihren früheren Büchern um die Verarbeitung von Sekundärliteratur, sondern um unbearbeitete und unveröffentlichte Quellen. „Es war ungeheuer spannend, weil zum Beispiel die handschriftlichen Briefe, abgesehen von den Archivangestellten, noch niemand vorher gesehen hatte.“ Und es war teilweise auch ernüchternd, weil sich ihr aus diesen Quellen erschloss, wie stark Aicher-Scholl in ihrem Buch Die weiße Rose und nachfolgend einige Biografen das Bild ihrer Familie geschönt hatten. „Aber mir war schon, als ich die wenigen Bücher zum Thema las, klar, da sind riesige weiße Flecken, so hehr und naiv, wie Sophie Scholl dort geschildert wird, kann sie gar nicht gewesen sein.“

 

Barbara Beuys trat dann nicht an, ein Denkmal zu zerschlagen, aber sie hat durch ihr neues Buch das Bild der Ikone des Widerstands stark differenziert.

Sie zeigt die junge Frau in ihren Widersprüchen, „die, wie ich finde, ihre Tat nicht kleiner, sondern noch authentischer und glaubwürdiger machen“. Sie weist anhand von Briefen und Dokumenten nach, dass alle Scholl-Kinder, voran Inge und Hans, aber auch Sophie, viel stärker und länger in der Hitlerjugend und im Bund deutscher Mädel engagiert waren, als man bisher wusste. Sie analysiert mit großem Einfühlungsvermögen, kritischem Geist und menschlichem Respekt, wie stark Inge Aicher-Scholl und vor allem ihr Ehemann Otl Aicher selbst emotional in die Vorgeschichte der Geschehnisse im Jahre 1943 verwickelt waren, als Sophie und ihr älterer Bruder Hans beim Verteilen antinazistischer Flugblätter in der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität verhaftet und nach kurzem Prozess enthauptet wurden. Und sie versucht, was ihr wohl vor allem bei Aicher nicht ganz leicht fiel, auch diesen schwierigen Persönlichkeiten gerecht zu werden.

Das Leben Sophie Scholls betrachtet sie vor dem Hintergrund der politischen Entwicklung ihrer Zeit, aber auch innerhalb ihrer Familiengeschichte. „Ich glaube, das ist wirklich ein bisschen Erbe von meinem zweiten Buch Familienleben in Deutschland, seit dem für mich ganz klar ist, welch ungeheure Rolle die Familie spielt und dass das meistens in den Geschichtsbüchern vernachlässigt oder idyllisiert wird“, sagt sie. Auch psychologische Gesichtspunkte spielen eine große Rolle. Barbara Beuys will „niemanden auf die Couch legen, aber eine innere Entwicklung schon nachvollziehen“. Zumal Sophie Scholl sich ja während der entscheidenden Jahre noch in der Adoleszenz befand. Wenn man das neben ihrer Persönlichkeit nicht mit einbeziehe, sagt die Biografin, sei sie ja gar nicht zu verstehen, zum Beispiel in ihrer ganz engen Beziehung zur Natur oder in ihrem Verhältnis zu ihrem Freund Fritz Hartnagel.

„Mich hat bei den Recherchen vor allem auch überrascht, wie unsentimental, ja knallhart Sophie Scholl ihm gegenüber sein konnte, nicht ohne sich immer wieder selbstkritisch mit ihren eigenen Fehlern zu sehen.“ Außerdem, sagt sie, habe sie wohl als erste herausarbeiten können, wie stark Sophie Scholl in ihren letzten Wochen gelitten habe, wie nahe sie am Rande der Depression war.

 

Die Kunst, diese Einzelaspekte freizulegen, ohne dass eine Lebensgeschichte auseinanderfällt, beherrscht Barbara Beuys wie wenige andere Autoren: Sie erzählt auch in diesem neuen Buch spannend und verbindet trockene Tatsachen zu sinnlichen Erzählungen. Ihr Handwerk als Biografin begreift sie dennoch völlig getrennt von der Arbeit einer Romanautorin, denn „alles was ich schreibe, beruht wirklich auf Fakten, es ist mir ganz wichtig, das den Lesern gegenüber zu betonen“. Für sich selber hat sie das Bild entwickelt, sie bekomme mit den Fakten die Grabplatte einer Person geliefert und versuche dann daraus ein dreidimensionales Bild zu gestalten, wie man das am Computer ja machen könne. Dazu begebe sie sich komplett in fremde Welten, ohne sich zu identifizieren: „Ich träume nie von Sophie Scholl, sie schaut mir nicht über die Schulter.“ Während der Arbeit an diesem Buch allerdings hat sie nichts gelesen, was nicht mit dem Thema zu tun hatte, und ist auch nie ins Kino gegangen – „das hätte mich abgelenkt“. Diese absolute Konzentration merkt man dem Werk Sophie Scholl Biographie an und ist gespannt, wo Barbara Beuys weiter forschen wird.

 

Ob sie eine weitere weibliche Persönlichkeit neu ausleuchten will? Auf eine Rolle als Frauenbiografin möchte sich Barbara Beuys nicht reduzieren lassen, „mein allererstes Buch, Der große Kurfürst, handelt von einem Mann, und dann gab es auch noch vieles andere, etwa Städtebilder über Köln, Hamburg und Florenz“, sagt sie. Wenn sie allerdings ihre Frauenbiografien im Rückblick betrachtet, findet sie es erstaunlich, wie viele Gemeinsamkeiten die von ihr porträtierten Figuren haben. „Es handelt sich in jedem Fall, bei der Droste, Hildegard, der Chinesin Li Qingzhao oder Paula Modersohn-Becker, um außergewöhnliche Frauen, die aber nicht mit dem Kopf durch die Wand, sondern die alle innerhalb des Systems, in dem sie lebten, mit Klugheit und Diplomatie einen Platz erobern wollten und die in dem Sinne dann auch nicht gescheitert sind.“ Nie würde sie eine Biografie über eine Persönlichkeit schreiben wollen, die sie nicht leiden könne, sagt die Autorin. Das habe wohl mit ihrer Vorstellung von Geschichtswissenschaft zu tun, aber auch mit ihrem Temperament. „Ich halte nun nichts von Astrologie, aber andere Menschen um mich herum sagen, ich sei so eine typische Waage. Ich gerate nicht eben schnell in Rage, und in meiner Arbeit spiegelt sich sicher auch meine eigene Grundstimmung und mein Blick auf die Welt und die Menschen, dem kann man ja gar nicht entkommen.“ Es ist, und das macht Barbara Beuys’ Bücher aus, ein verständnisvoller Blick.

 

Zum Weiterlesen:

 

Barbara Beuys, Sophie Scholl Biographie. C. Hanser, München 2010. 496 Seiten, 24,90 Euro

 

Paula Modersohn-Becker oder: Wenn die Kunst das Leben ist. C. Hanser, München 2007. 344 Seiten, 24,90 Euro (Insel TB 12,90 Euro)

 

Der Preis der Leidenschaft. Chinas große Zeit: das dramatische Leben der Li Qingzhao. C. Hanser, München 2004. 488 Seiten 24,90 Euro (Insel TB 16 Euro)

 

Denn ich bin krank vor Liebe. Das Leben der Hildegard von Bingen. C. Hanser, München 2001. 376 Seiten, 24,90 Euro (Insel TB 12,90 Euro)

 

Blamieren mag ich mich nicht. Das Leben der Annette von Droste-Hülshoff. C. Hanser, München 1999. 408 Seiten, 23,50 Euro (Insel TB 12,90 Euro)

 

 

Ulrike Frenkel ist freie Journalistin und lebt mit ihrer Familie südlich von München.