"Wir sind alle Nomaden"

Felicitas Hoppe äußert sich zu Stipendien, Gastprofessuren und dem Unterwegssein

 

 

Felicitas Hoppe verbringt den Monat September in Schwäbisch Hall als diesjährige Preisträgerin des Comburg-Stipendiums. Es geht an „W(O)rtsammler“, das heißt an Autorinnen und Autoren, die in ihren Werken das Reisen an meist fremde Orte, durch Länder und Landschaften zum literarischen Gegenstand machen. Die früheren Comburg-Stipendiaten waren Beate Rygiert, Ulf Erdmann Ziegler und Ilija Trojanow.

Geboren wurde Felicitas Hoppe 1960 in Hameln; sie studierte Literatur und Rhetorik in Tübingen, den USA und Berlin, wo sie seit 1996 als freie Schriftstellerin lebt – wenn sie nicht gerade mit einem Aufenthaltsstipendium, als Gastdozentin oder zur Recherche irgendwo in der Welt unterwegs ist. Seit ihren ersten Geschichten sind Reisen das dominierende Motiv, Schiffsreisen auf den Ozeanen, Reisen durch die Kontinente und Zeiten, durch Geschichte und Literatur. Oft locken schon die Buchtitel hinaus in die Welt: Picknick der Friseure, Paradiese, Übersee oder Pigafetta, LeserInnen bekannt als Weggefährte Magellans bei dessen Weltumsegelung. Ihre jüngste Veröffentlichung ist die Erzählung Der beste Platz der Welt, angeregt durch mehrere Aufenthalte im Wallis. Erschienen ist das Bändchen bei Sabine Dörlemann, die am 21. 9. im Stuttgarter Schriftstellerhaus ihre Verlagsarbeit vorstellen wird, begleitet von Felicitas Hoppe. In Schwäbisch Hall wird sie im Kaisersaal auf der Comburg und in Schulen lesen, am 15. 9. findet die offizielle Preisverleihung im Rathaus statt.

 

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Im Juni sind Sie aus Washington, D. C. zurückgekehrt, wo Sie an der Universität Georgetown unterrichtet haben – kamen Sie dort zum Schreiben?

 

Wenn ich in Washington bin, hat der Unterricht unbedingt Vorrang. Das Unterrichten bereitet mir größte Freude (eine ganz andere Herausforderung als das Schreiben!), aber es kostet natürlich Arbeit, also Zeit, die von der „Schreibzeit“ abgeht. Das schlägt sich allerdings hinterher im Schreiben umso positiver nieder, weil mich der Kontakt mit den Studierenden und Kolleginnen und Kollegen sehr bereichert. Genau wie das Leben in einer anderen Stadt, in einem anderen Land mit einer anderen Geschichte und einer anderen Sprache. Das Leben in einer anderen Sprache schärft den Blick für die eigene und damit auch für das eigene Schreiben. Tatsächlich, und für mich selbst überraschend, ist es mir diesmal trotzdem gelungen, in D. C. den Grundstein für mein neues Buch zu legen, an dem ich jetzt gerade arbeite.

 

In den letzten fünfzehn Jahren hatten Sie neben Poetik-Dozenturen im In- und Ausland zahlreiche Aufenthaltsstipendien, unter anderem in Schöppingen und Schloss Wiepersdorf, in Basel und Lüneburg, St. Moritz und Sylt. Waren diese Aufenthalte Ihrer Arbeit dienlich? Sogar befördernd?

 

Ja, das waren sie. Man gewinnt vor allem Abstand und Zeit. Die meisten meiner Bücher sind nicht in Berlin entstanden. Ich mag das: wegfahren, sich kurzfristig im Ungewohnten einrichten und ganz auf die Arbeit konzentrieren. Beim Schreiben neige ich zur Ausschließlichkeit, ich bin jemand, der „durchschreibt“, am besten ein ganzes Buch am Stück. Da gibt es keinen Achtstundentag. So etwas funktioniert natürlich nur, wenn man sozial nicht allzu sehr abgelenkt ist. Hinzu kommt meine Freude an Geschichten, die andere Orte erzählen. Sie fließen, zumindest unterschwellig, fast immer in meine Texte ein. Unser so genanntes „Innenleben“ gäbe es ja nicht ohne den Blick auf ein Außen. Und dieser Blick schärft sich umso mehr, je weniger man in diesem „Außen“ zuhause ist. Je unvertrauter das „Außen“, desto klarer die Konturen. Das befördert mein Schreiben. Allerdings ist das etwas, das sich nicht verallgemeinern lässt. Ich glaube, dass es Autoren gibt, für die das nicht funktioniert. Man muss wissen, was für ein Typ man ist.

 

Gab es ähnliche Anregungen wie 1996 während des Aufenthalts im Esslinger Bahnwärterhaus zu Ihrem Roman Pigafetta? Für den Sie dann freilich im Jahr darauf eine Reise auf einem Containerschiff unternommen haben …

 

Solche konkreten Erfahrungen, wie die Begegnung mit der Marine-Kameradschaft Tsingtau e.V., sind selten. Es ist schon verrückt, wenn man im Schwäbischen sitzend, auf die Seefahrt stößt und danach tatsächlich plötzlich aufs Meer will. Vielleicht ist es aber auch umgekehrt, und man muss erst ins Schwäbische, um danach entschieden aufbrechen zu wollen. Anders gesagt: Die Sehnsucht nach Aufbruch ist nicht an den Häfen gebunden. Am Ende bin ich dann aber doch im Hamburger Hafen gelandet, um von da aus zu meiner Reise um die Welt aufzubrechen. Denn manchmal wird es auch im vermeintlich unendlichen literarischen Raum zu eng, dann muss man seine Träume an der Realität überprüfen, mit allen Risiken und Nebenwirkungen. Das gilt jedenfalls für mich, mein Reisen und Schreiben.

 

Im Sommer 2000 waren Sie mit anderen SchriftstellerInnen im Zug zwischen Lissabon und dem Baltikum, Moskau und Berlin unterwegs, als ausgewählte deutsche Teilnehmerin im „Literaturexpress Europa 2000“.

 

Das war eine weitere fantastische Reise, die mich geprägt hat, wenn auch aus ganz anderen Gründen als die Schiffsreise um die Welt. Die ging damals in westlicher Richtung, mit der Sonne, war einsam und konzentriert. Der Express dagegen fuhr Richtung Osten, der Sonne entgegen. Eine Reise in die undurchschaubar komplexe Geschichte Europas, voller Außenwelt, Begegnungen, Auftritte und Auseinandersetzungen über höchst unterschiedliche literarische Wahrnehmungen. Da haben sich die „Konturen“, von denen ich eben sprach, auf ganz andere Weise geschärft. Geschrieben habe ich auf dieser Reise so gut wie gar nicht, dafür aber Freundschaften geschlossen. Und eine nachhaltige Lektion über die Sisyphosarbeit des Übersetzens gelernt.

 

Wenn man von Ihnen spricht, heißt es oft, Ihre Passion sei „die Sehnsucht“, und von Ihren Büchern, sie seien immer auch „Bücher vom Reisen“ – sehen Sie das selbst genauso?

 

„Sehnsucht als Passion“ – das ist ja zunächst mal nichts als ein literarischer Werbespruch, der schön klingt, aber alles andere als stimmig ist. Man kann viele Passionen haben, Leidenschaften im besten Sinne, aber man kann kein Gefühl zur Passion erheben. Auch nicht zum Programm. Ich persönlich habe ganz andere Passionen: Musik zum Beispiel oder Eishockey, das ist etwas konkreter. Dass jede Passion auf eine Sehnsucht hinweist, die mit unseren je persönlichen Wünschen und Gefühlen zu tun hat, versteht sich von selbst.

Ich habe von der Abgleichung der Wünsche und Träume mit der Realität gesprochen. So verhält es sich auch mit dem Reisen. Das Reisen stillt unsere Sehnsucht nicht, sondern bringt sie nur, auf manchmal schmerzhafte Weise, auf den Punkt. Wie oft und wohin auch immer wir reisen, wir finden nie, was wir suchen. Was kein Verlust ist, sondern ein Gewinn. Wir finden stattdessen ganz andere Dinge. In diesem Sinn sind alle meine Bücher „Bücher vom Reisen“. Sie erzählen vom Aufbruch, von Erprobungen, oder, um mit meinem Held Iwein zu sprechen, von der Suche nach Abenteuern: „Abenteuer, was ist das?“, fragt Hartmann von Aue bereits um 1200. Das ist ein so bewährtes wie unoriginelles, aber immer wieder existentielles Programm, das ich durchspiele, der alte Spagat zwischen Heimat und Ferne, zwischen einer Bewegung nach vorn und einer Bewegung zurück. Für mich ist Schreiben immer Bewegung, nie Statik.

 

Reisen sind Parabeln für die Sehnsüchte der Menschen, aber die wahren Abenteuer finden in den Köpfen statt: Ja? Nein?

 

Ja und nein. So schlicht wie ergreifend: Es gibt keine „wahren Abenteuer“, so wie es auch keine „falschen“ gibt. Wie könnte es da einen Wettbewerb geben? Der eine reist, der andere schreibt, ein dritter liest. Ein vierter reist, schreibt und liest, alles in einem. Ein fünfter dagegen reist, ohne zu lesen, ein sechster ohne zu schreiben, ein siebter tut nichts und erlebt ganz andere Abenteuer. Meine Devise: In Wünschen, Träumen und Lebenserfahrungen gibt es weder Hierarchien noch Konkurrenz.

 

Als Sie vor einigen Jahren nach Ihrem Lieblingsbuch gefragt wurden, empfahlen Sie Grimms Märchen mit der Begründung: „Stroh wird zu Gold, Hahn, Katze, Hund und Esel singen gemeinsam und wer den Frosch zu küssen wagt – na ja, den Rest kennt man. Märchen bieten spannende Unterhaltung für groß und klein.“ Auch in den Märchen müssen die Protagonisten reisen und Abenteuer bestehen – ist es das, was Sie daran reizt?

 

Ich weiß zwar nicht mehr, wo ich das gesagt habe, aber ja, ich liebe Märchen, nicht nur die Grimmschen, sondern Märchen aus aller Welt. In meinen Augsburger Vorlesungen (2009) schreibe ich: „Lesen wir Märchen als das, was sie auch sind, nämlich schlichte Reiseliteratur, stellen wir fest, dass Übermut oder Überdruss der erste Motor der Reise sind. Die Sehnsucht nach Abenteuern und wunderlichen Dingen ist die Flucht vor der Langeweile. Für andere Märchenhelden dagegen ist sie Flucht aus der existentiellen Not des Alltags, eine Art Zwangsverschickung. In jedem Fall gilt, dass nur wer furchtlos ist und sein Ziel nicht kennt, sich erfolgreich auf den Weg durch den Wald machen kann.“ In anderen Worten: Märchen sind nicht fantastisch, sondern höchst realistisch. Auf diesen Punkt kommt es mir an: Das Märchen spricht nicht von dem, was nicht ist, sondern von dem, was ist. Schließlich haben wir keine Wahl: „Nimm dein Bett, steh auf und geh!“, wie es so schön in der Bibel heißt.

 

Ihr letztes Buch Der beste Platz der Welt – ein literarisches Kleinod – entstand nach Ihrem Aufenthalt in Leuk. Ist es durch den Aufenthalt in den Alpen inspiriert?

 

Von was sonst! Der beste Platz der Welt ist das Ergebnis eines fünfjährigen Gastrechts im Schweizer Wallis, den mir der „Spycher Preis“ der dortigen Stiftung Schloss Leuk ermöglicht hat. Eine unschätzbare Erfahrung. Die Walliser Berge kenne ich, die niedersächsische Flachländerin, mittlerweile zu jeder Jahreszeit, sommers wie winters, im Frühjahr so gut wie im Herbst. Während dieser Zeit habe ich, als Bewohnerin einer Einsiedelei in Nachbarschaft einer berühmten Kirche, nicht nur meinen Roman Johanna geschrieben, sondern Geschichten wie Erfahrungen gesammelt, die sich, gemischt mit biografischen Erinnerungen, in diesem kleinen Text niederschlagen. In meiner Dankesrede bei der Preisverleihung schrieb ich: „Die Berge sind mir fremd.“ Das sind sie mir übrigens immer noch. Fremdsein hört nicht auf. Aber es ist auch nicht schlimm, wenn man erkennt, was es wirklich meint: Dass wir, ganz egal, wo wir sind, sowieso immer nur Gäste sind.

 

Wenn Sie noch nie zuvor in Schwäbisch Hall und auf der Comburg waren – was interessiert Sie dort, erwarten Sie Anregungen von den historischen Orten?

 

Aber ja! Obwohl ich einstmals Studentin in Tübingen war – ich kenne weder Schwäbisch Hall noch die Comburg, was die Neugier auf den Ort vervielfacht. Ich habe übrigens nicht die Absicht, mich vor meinem Besuch darüber zu belesen, sondern schüre stattdessen lieber die Vorfreude auf das, was kommt, und auf die, die ich treffe. Und auf die Geschichten, die man mir erzählen wird.

 

Wissen Sie schon, woran Sie dort arbeiten werden? Oder lassen Sie sich in fremden Städten und Landschaften einfach mal treiben?

 

Treiben lassen, das war nie meine Sache, auch wenn manches, was ich oben gesagt habe, durchaus danach klingt. In der Regel weiß ich genau, was ich will, weshalb ich auch weiß, woran ich auf der Comburg arbeiten werde: an meinem neuen Buch, an meiner schon seit Jahren geplanten Biografie über Felicitas Hoppe. Höchste Zeit, dass jemand zu Papier bringt, wohin diese Frau wirklich unterwegs ist. Denn im Dezember werde ich fünfzig.

 

Ist das Nomadendasein der modernen SchriftstellerInnen eine Erscheinung der Gegenwart? Eher eine Annehmlichkeit der mobilen Welt oder eine Notwendigkeit, um Geld zu verdienen? Denn in gewisser Weise zwingen ja auch die Lesetouren zum ständigen Reisen?

 

Nicht nur Schriftsteller sind Nomaden. Wir sind es ja alle. Dass die Geschichte uns eine Pause gegönnt hat, die uns kurzfristig glauben macht, wir könnten tatsächlich sesshaft werden und in Sicherheit sein, ist eine andere Frage. Schriftsteller sind seit jeher „on the move“. Das fühlt sich nicht immer gut an. Aber das wusste schon Walter von der Vogelweide, Berufsdichter ohne festen Wohnsitz, als er seinen Lehnsherrn um einen Wintermantel bat, weil ihm ziemlich kalt war. Warum sollten wir heute besser dran sein?

 

Die Fragen stellte Irene Ferchl.

 

Zum Weiterlesen (Auswahl):

 

Picknick der Friseure. Geschichten. 1996. TB 2006. 7,75 Euro

Pigafetta. Roman. 1999. TB 2006. 8,95 Euro

Paradiese, Übersee. Roman. 2003. TB 2006. 8,95 Euro

Johanna. Roman. 2006. 172 Seiten, 17,95 Euro (TB 7,95 Euro)

Iwein Löwenritter. Erzählung nach Hartmann von der Aue für Kinder ab 12 Jahren. 2008. 249 Seiten, 16,90 Euro

Sieben Schätze. Augsburger Vorlesungen. 2009. 240 Seiten, 17,95 Euro

(alle S. Fischer, Frankfurt a. M.)

 

Verbrecher und Versager. Fünf Porträts. Mare Verlag, Hamburg 2004 (antiquarisch)

 

Der beste Platz der Welt. Erzählung. Edition Spycher in der Dörlemann Verlag AG, Zürich 2009. 96 Seiten, 14,80 Euro

 

Außerdem mehrere bibliophile Bücher zusammen mit der Illustratorin Ingrid Jörg in der Berliner Handpresse, zuletzt im Sommer Der begnadigte Truthahn.