„Wo das Wort aufhört …“

Zu Gunter Böhmers Buchillustrationen

 

Von Irene Ferchl

 

„Nach der ersten Lektüre eines Buches, das ich zu ,illustrieren‘ habe, suche ich dessen ,Inhalt‘ sofort wieder zu vergessen: ein Disziplinierungsverfahren, das jahrzehntelange Übung verlangt. So befreit, tauchen dann aus der eigenen Bilderwelt Erinnerungen auf, die sich mit der Atmosphäre der Dichtung absichtslos vereinigen können. Dabei entstehen freie Folgen (auch im Format) ungebundener Darstellungen – manchmal Hunderte! – die ich ,Einstimmungsblätter‘ nenne. Auf dieser Grundlage beginne ich zeichnend und wiederlesend die eigentliche Zwiesprache mit einem Buch, die zu Steigerung oder zum Verstummen führen kann.“

 

Tausende, eher Zehntausende von Zeichnungen sind so entstanden, denn Gunter Böhmer hat über 170 Bücher illustriert, dazu kommen diejenigen, für die er nur Einbände und Schutzumschläge gestaltete, und seine freien grafischen Arbeiten. Zweifellos gehört er zu den produktivsten und bedeutendsten Künstlern der Buchillustration im 20. Jahrhundert – und eine ganze Reihe von Ausstellungen würdigt dieses Schaffen im Jahr seines 100. Geburtstags.

Für die bereits 2003 erschienene, reich bebilderte Bibliografie hat Susann Rysavy zusammengetragen, was in einem Zeitraum von einem halben Jahrhundert entstanden ist: Illustrationen zu Werken der Weltliteratur von Dostojewskij und Gogol, John Keats und Edgar Allan Poe, Flaubert, Stendhal und Maupassant, Pedro de Alarcón und den Nobelpreisträgern Luigi Pirandello und Giorgios Seferis. Das Hohe Lied Salomonis findet sich darunter ebenso wie die Märchen der Brüder Grimm, Romane von Eichendorff, Musil und Kafka, Christian Wagners Gedichte und Eduard Mörikes Mozart auf der Reise nach Prag ebenso wie Texte zeitgenössischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller, darunter Emmy Ball-Hennings, Geno Hartlaub oder Erika Burkhart, Rudolf Hagelstange, Curt Goetz und Hans Joachim Schädlich.

Neben gebundenen oder broschierten Büchern, kleinen Geschenkbändchen, Taschenkalendern und Almanachen gibt es bibliophile Mappenwerke: 1965 erschien in der Stuttgarter Manuspresse William Faulkners Romanauszug Scheckige Mustangs, „gelesen von Gunter Böhmer“ und begleitet von über vierzig Lithografien, deren spannungsgeladene Strichstrukturen dem Temperament und der Vitalität der wilden Pferde entsprechen – übrigens eines der oft variierten Lieblingsmotive des Künstlers.

 

Gunter Böhmer hat intensiv gelesen – davon zeugte nicht zuletzt seine große Bibliothek – und für jeden Text, jedes Sujet, jede Stimmung eine eigene, passende Bildsprache gewählt. Er verfügte über verschiedenste Techniken vom behutsam leichten, andeutenden Strich bis zu schwingenden Rohrfederzügen, von jagend hingeschriebenen Schraffuren bis zu bizarren Verdickungen und tiefschwarzen Flecken; neben Feder- und Tuschzeichnungen hat er gelegentlich Farbstift oder Aquarell, Radierung und eben auch die Lithografie verwendet.

Illustration ist für Böhmer kein gefälliger Buchschmuck, sondern ein gleichberechtigter kreativer Akt, bedeutet nicht bloßes Kommentieren, sondern eine „bei aller Diskretion autonome Haltung“. Das heißt, es geht ihm um die Mitteilung eigener Erlebnisse mit und Erkenntnisse aus dem Gelesenen: Er wählt signifikante Momente der Geschichte aus, setzt Informationen ins Bild, aber besteht darauf, das Erzählte nicht bloß zu veranschaulichen, sondern die Aufmerksamkeit zu steigern, die emotionale Beteiligung zu intensivieren, zu Reflexionen anzuregen.

Immer wieder hat er sich selbst dazu geäußert, streng und unerbittlich Rechenschaft abgelegt: „Zum Wesen der Illustration gehört, einer Dichtung genau zuhören und antworten. Ob daraus ein echter Dialog, ein Doppelmonolog, ein Streitgespräch entsteht, hängt vom Charakter und Rang des Themas und der Profilierung sprachlichen und optischen Denkens ab.“

 

Nicht immer waren seine Dialogpartner auf demselben Qualitätsniveau und nicht wenige (zeitgenössische) Autoren sind wohl zu Recht vergessen, aber Böhmer selbst machte da für sich keinen Unterschied. Zum Beispiel sagte er: „Die illustrative Mitarbeit an einem Jugendbuch betrachte ich nicht als eine ,Spezialaufgabe’, die man etwa leichter nehmen könnte als die graphische Gestaltung eines anspruchsvollen dichterischen Werks für ,Erwachsene’. Ich glaube ganz im Gegenteil, daß in der Jugendbuchillustration für einen Zeichner zwei besondere Möglichkeiten liegen: sich selbst zu prüfen, wieweit er im Innersten wirklich jung geblieben ist, in sich die Kraft des Staunenkönnens und die Heiterkeit der Begeisterung erhalten oder gesteigert  hat – und wieweit seine Form bei aller heutigen künstlerischen Problematik auf ehrliche Weise einfach und unkompliziert zu sein vermag.“

Der Impetus, der aus solchen Äußerungen spricht, erinnert natürlich an Hermann Hesse, Böhmers Mentor und väterlichen Freund, ohne dessen Einladung ins Tessin sein Lebensweg sicher anders verlaufen wäre.

 

Geboren am 13. April in Dresden hat Gunter Böhmer nach dem Abitur ein Studium der Malerei und Grafik an der dortigen Akademie sowie Germanistik an der Universität begonnen. Er wechselte 1931 nach Berlin, wo erst Emil Orlik, dann Hans Meid seine Lehrer waren; die Begegnung mit Max Slevogt und dessen illustrierten und bibliophilen Büchern wurde für den jungen Mann „ein Erlebnis, dessen Bedeutung und Tragweite“ ihm erst viel später zu Bewusstsein kam – der Text „Erinnerung und Dank“ in dem neuen Band mit Böhmers eigenen lesenswerten Schriften bezeugt dies eindrücklich.

Als 21-jähriger Kunststudent sendet Böhmer einen Brief an Hermann Hesse, nachdem er bereits sechs Jahre zuvor von einer Ausstellung mit dessen Aquarellen und danach von seinen Büchern begeistert war. Er habe den Plan, schreibt er, Radierungen dazu zu machen …

Hesse, von seiner sonstigen Korrespondenz gewiss genug beansprucht, erkennt das Besondere dieser illustrierten Briefe und antwortet sofort: „Es ist Ihnen gelungen, mir eine Freude zu machen, das schätze ich hoch, es ist selten.“ Ebenso ungewöhnlich ist es, dass Hesse den jungen Mann einlädt, ihn zu besuchen.

Böhmer beendet jedoch erst sein Studium und bricht dann, wenige Wochen nach Hitlers Machtübernahme, gen Süden auf, unternimmt vorher noch eine Art Wallfahrt zu Hesses Lebensstationen Calw, Maulbronn, Würzburg und reist schließlich weiter ins Tessin. In Montagnola wird er im Mai 1933 herzlich empfangen und gleich in der Casa Camuzzi einquartiert, Hesses erstem Domizil dort. Gunter Böhmer bleibt – schließlich auf Lebenszeit –, wird dem zu Besuch weilenden Verleger Samuel Fischer vorgestellt, den die Malerbriefe so begeistern, dass er sofort eine größere Folge von Zeichnungen zur Neuausgabe des Hermann Lauscher in Auftrag gibt.

Dies war Gunter Böhmers erster Illustrationsauftrag. Es folgten rasch weitere für die Verlage Gundert, Engelhorn und Thienemann in Stuttgart, Wunderlich in Tübingen, Reclam in Leipzig, aber auch für die Officina Bodoni in Verona und andere. Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs waren es dann vor allem Schweizer Verlage: Fretz und Wasmuth, für die er eine großformatige Ausgabe von Gotthelfs Schwarzer Spinne mit vierzig dramatischen Zeichnungen versah, oder Tschudy in St. Gallen, wo im gleichen Jahr 1942 ein viel gelobter Band von Büchners Lenz erschien; dafür hat Böhmer seinen graziösen, spielerischen Strich mit der Linie als Andeutung und Rhythmus um ein radikalere Ausdrucksform erweitert. Es ging dem Künstler nun klar um eine Sichtbarmachung der inneren Vorgänge.

Die Oltner Bücherfreunde und andere bibliophile Vereinigungen ermöglichten ihm, sich auszuprobieren und buchkünstlerische Preziosen zu realisieren. Eine solche war das Projekt Klingsors letzter Sommer, das ihm der Leiter der Bauerschen Gießerei anbot und das einzige Buch des Dichterfreundes Hesse werden sollte, das Böhmer selbstgewählt in Angriff nahm. Die Reproduktionsarbeiten für die Jahresgabe waren gerade abgeschlossen, als Anfang 1944 Bombenangriffe auf Frankfurt die Druckplatten zerstörten. Glücklicherweise haben sich wenigstens Originale und Probedrucke erhalten, so dass dank des Engagements von Susann Rysavy – Böhmer-Schülerin und Kuratorin der Gunter-Böhmer-Stiftung Calw – und dem Lektor Volker Michels Jahrzehnte später, nämlich 2000 zum 50-jährigen Bestehen des Suhrkamp Verlags, eine prachtvolle Ausgabe mit farbig lavierten Federzeichnungen und doppelseitigen Illustrationen erscheinen konnte.

Dies hat Böhmer, der 1986 starb, nicht mehr erlebt, genauso wenig das 1993 publizierte und im selben Jahr als schönstes Buch ausgezeichnete Schloss von Franz Kafka in der Büchergilde Gutenberg. Für diese hat Böhmer seit 1948 häufig und gern gearbeitet, zum Beispiel auch Robert Walsers Roman Der Gehülfe mit achtzig Zeichnungen versehen, bewegt von den – wie er selbst formuliert – „kleinen Rissen in den verhüllenden Schleiern walserscher Sprachbilder, die eine geheime Wirklichkeit ahnen ließen“.

 

Dass er nicht nur bildender Künstler war, sondern ebenso sorgsam und gewählt mit dem Wort umgehen konnte, ist nun in einem umfangreichen Band nachzulesen, der die bisher verstreut publizierten Texte versammelt: über seine Wahlheimat, das Tessin, Erinnerungen an Kollegen wie Hans Purrmann  und sein Vorbild Max Slevogt, an Emmy Ball und natürlich Hermann Hesse, Glückwünsche in gleichermaßen mit Füll- wie Zeichenfeder gestalteten Briefen oder Nachworte, etwa zu der wunderschönen, 1975 in der Büchergilde erschienenen Ausgabe der Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull von Thomas Mann, die wie das Romanfragment selbst ein wahres Themenfeuerwerk entzünden. Er beabsichtige, so Böhmer, mit den 84 Zeichnungen „die stetige Strahlung der beschwingten Anmut dieses Werkes“ zu verdoppeln, jedoch nicht als bildkünstlerische Wiederholung, denn: „Illustration ist nicht imitierte oder repetierte Literatur, ihr Wesen beginnt dort, wo das Wort aufhört.“

 

Die Krull-Illustrationen sind übrigens in Stuttgart entstanden und bis heute dort, denn Gunter Böhmer erhielt 1960 einen Ruf an die hiesige Kunstakademie und war dort bis zu seiner Emeritierung 1976 Professor für freie Grafik. Sein letztes Lebensjahrzehnt verbrachte er wieder ganz im Tessin, wohin ihn als junger Mann „eine Reise, um anzukommen“ geführt und wo er „einen barocken Traum, meinen Käfig, mich selbst“ gefunden hatte.

Seinen künstlerischen Nachlass bewahren verschiedene Sammlungen und Stiftungen in Marbach, Dresden, Collina d’Oro-Gentilino und Calw, aus denen in diesem Jahr über ein Dutzend Ausstellungen bestückt werden, davon allein fünf mit seinen Buchillustrationen und -umschlägen. Entsprechend der Bedeutung, die Böhmer – wie es in seinen „Maximen und Reflexionen“ heißt – dem Buch als geistigem Medium zuweist: es „führt auch den Zeichner zur Vertiefung jeder Substanz, die er als Voraussetzung und ,Inhalt‘ seiner Arbeit nicht ernst genug nehmen kann. […] Auch als Leser bin ich Zeichner, als Zeichner Maler. Ich lese immer, nicht nur Geschriebenes; ich zeichne immer, nicht nur Gesehenes. So atme ich.“

 

*

 

Zum Weiterlesen und -schauen:

 

Gunter Böhmer beim Wort genommen. Schriften zum hundertsten Geburtstag. Hrsg. von Susann Rysavy. Verlag Ulrich Keicher, Warmbronn, 2011. 360 Seiten, 38 Euro

 

Gunter Böhmer, Bibliographie der illustrierten Bücher und Eigenveröffentlich-ungen. Bearbeitet und herausgegeben von Susann Rysavy. Verlag Ulrich Keicher, Warmbronn 2003. 337 Seiten mit 578 Abb., 98 Euro

 

„Gunter Böhmer illustriert Weltliteratur“. Die Wanderausstellung der Gunter-Böhmer-Stiftung Calw wird vom 14. April bis 5. Juni in der Landes- und Universitätsbibliothek Dresden, in der Sparkasse Calw und anschließend  in Burg zu Hagen im Bremischen gezeigt. Dazu erscheint ein Katalog mit ca. 96 Seiten, teilweise farbigen Abb., ca. 15 Euro.

Der Illustrationszyklus zu Franz Kafkas Das Schloss ist vom 17. April bis 15. Mai im Christian-Wagner-Haus in Leonberg-Warmbronn zu sehen, die Kabinett-Ausstellung „Der gedeutete Gehülfe“ ab 28. April im Robert-Walser-Zentrum in Bern.

 

Irene Ferchl ist seit 1993 Herausgeberin des Literaturblatts und beschäftigt sich als Publizistin immer auch mit Bildender Kunst.