Island, die wunderbare …

Zehn Bücher aus dem Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse

 

Von Astrid Braun

 

Geologisch gesehen ist Island ein pubertierender Teenager. Vor rund zwanzig Millionen Jahren, als die Erde mit ihren Meeren und Kontinenten schon lange war, was sie heute ist, da erst entstand die Insel am Rande des ewigen Eises. Mehrere Tausend Meter unter der Wasseroberfläche brachen Vulkane aus und schleuderten ihre Lavamassen über den Meeresspiegel, wo sie sich in wilder Schönheit übereinandertürmten.

Es dauerte fast zwanzig weitere Jahrmillionen, bevor Menschen sich in diesen unwirtlichen Vulkantürmen niederließen: Vor ungefähr 1200 Jahren wagten norwegische Siedler, die Freiheit vor ihren Feudalherren suchten, einen Neubeginn auf dieser entlegenen Insel, die ein Vierteljahr dauerhaft hell ist, ebenso lange dauerhaft dunkel und dazwischen jeweils ein Vierteljahr grau und regnerisch. Keine besonders guten Lebensbedingungen also.

Immer wieder erlebte Island, das zunächst von den Norwegern, dann von den Dänen kolonialisiert wurde und erst im 20. Jahrhundert seine Unabhängigkeit erreichte, schwere Epidemien, Hungersnöte und Naturkatastrophen, denn die Vulkane haben ihre Arbeit nicht aufgegeben und halten bis heute die Bevölkerung in Atem. An verheerende Ascheregen und Sandstürme sind die Isländer gewöhnt. „Island ist also ein Land, das es eigentlich nicht geben dürfte, besiedelt von einem Volk, das längst hätte evakuiert werden sollen“, schreibt Kristof Magnusson in seiner Gebrauchsanweisung für Island.

 

„Andere Völker bewahren Tempel und Töpfe auf, wir besitzen so etwas nicht, nur Sagas und Versfüße, die wir noch immer verwenden. Darum werden wir gleich archaisch, wenn wir anfangen zu sprechen.“

(Hallgrímur Helgason, Eine Frau bei 1000°)

 

Island hat keine Altertümer oder Paläste, doch eine bemerkenswerte Sprache, die sich seit tausend Jahren kaum verändert hat. Statt Kathedralen bauten die Isländer aus Wörtern Geschichten, die sie weitergaben.

Die alte isländische Literatur umfasst die Sagas und die Eddas, dies sind die sogenannte Lieder-Edda, aufgezeichnet im späten 13. Jahrhundert, und die Snorra-Edda, welche Snorri Sturluson um das Jahr 1220 verfasst hat. Während die Eddas sich mit den nordischen Helden, Göttern und Mythen beschäftigen, bilden die Sagas in gewisser Weise die Wirklichkeit ab. Aufgeschrieben zwischen dem 13. und 14. Jahrhundert, erstrecken sich die Handlungen der Sagas von der Landnahmezeit im 9. Jahrhundert bis in das 11. Jahrhundert. Sie erzählen detailreich von den Auseinandersetzungen der verschiedenen Clans. Eine der bekanntesten Isländersagas ist die „Saga von Grettir“.

 

Dass ein kleines Volk so viel Zeit und Mühe darauf verwendete, Sagas aufzuschreiben, und dafür zahllose Kalbshäute opferte – denn der Buchdruck war ja noch nicht gebräuchlich –, hat den Mythos von den lese- und schreibfreudigen Isländern begründet. Kristof Magnusson bringt diese bis heute anhaltende Begeisterung für die Literatur in einem witzigen Vergleich auf den Punkt: „Als Halldór Laxness [Islands Nobelpreisträger für Literatur] 1998 starb, gab es in Island zwei Drive-in-Supermärkte, einen Sexshop und mehr als ein Dutzend hauptberufliche Autoren.“

Die Menge der isländischen Literatur in deutscher Übersetzung, die jetzt zur Frankfurter Buchmesse auf den Markt kommt, differenziert wahrzunehmen ist gar nicht so einfach, denn die literarische Produktion ist, gemessen an der Bevölkerungszahl von 330 000 Einwohnern, überwältigend.

 

Wir assoziieren mit Island: Vulkane, Fische, Trolle und Elfen, Einsamkeit, wilde, raue Natur, saubere Luft, heißes Wasser, aber auch Überlebenskampf, Bankenkrise und Trunksucht. Genau diese Themen durchziehen die Literatur. Ein zeitgenössischer isländischer Roman ohne Naturbeschreibung ist schlicht nicht vorstellbar. Jedem mitteleuropäischen Autor würde man die teilweise ausufernden Beschwörungen der Natur und der Elemente um die Ohren hauen. Aus der Feder eines Jón Kalman Stefánsson, eines Sjón oder einer Kristín Steinsdóttir sind sie hingegen von einmaliger Schönheit und ungewöhnlichem Bilderreichtum. Der Leser spürt, dass hier nicht romantisch-sentimental verklärt wird, sondern die Natur auf radikale Weise den Alltag der Menschen und deshalb auch seine Imagination bestimmt.

 

„Wir haben einen weiten Weg zurückgelegt, weiter als irgendjemand zuvor, unsere Augen sind wie Regentropfen, voller Himmel, klarer Luft und Nichts.“ (Jón Kalman Stefánsson, Der Schmerz der Engel)

 

Ehrfurcht ist der angemessene Ausdruck für das, was die Bücher von Jón Kalman Stefánsson auslösen. Sein Roman Der Schmerz der Engel erzählt von der Wanderung zweier Menschen über Gletscher und Höhenwege, um Post in entlegene Täler zu bringen. Jens, der Postmann, und der Junge ohne Namen kämpfen gegen Wind, Schnee und Eis. Der Junge ist der Poet, der den Schweiger Jens zuerst in Bedrängnis und dann zum Schmelzen bringt. Es gibt keine Seite in diesem Buch, auf der nicht ein Satz steht, den man sofort ins Herz schließt. Dieser zu Beginn des 20. Jahrhunderts spielende Roman ist ein grandioser Gesang über das Leben, die Liebe, die Widrigkeiten des Wetters und die Hartnäckigkeit des Menschen, ein Leben angesichts des Todes zu führen.

 

Sjón, eigentlich Sigurjón B. Sigurdsson, ist eine schillernde Figur im isländischen Literaturbetrieb. Er schreibt Gedichte, Songtexte, Romane und Drehbücher, etwa für den Film „Dancer in the Dark“ von Lars von Trier. Das Gleißen der Nacht ist sein zweiter ins Deutscher übersetzter Roman. Er entzündet sich an den Schriften von Jón Gudmundsson Laerdi, einem Gelehrten aus dem 17. Jahrhundert – im Roman Jonas Palmason. Als Renaissancemensch vereint dieser die biblische Vorstellung der Schöpfung, fast schon modernes naturwissenschaftliches Denken, aber auch heidnische Rituale und typisch isländische Mythen. Sjón hat keine Hemmungen, all dies in einer Person zusammenzuführen, und erweckt diesen Paracelcus Islands mit unvergleichlichem Einfühlungsvermögen zum Leben.

 

Auf ein Frauenschicksal hat sich Kristín Steinsdóttir in ihrem Roman Im Schatten des Vogels konzentriert. Die Hauptfigur Pálina Jónsdóttir wächst im späten 19. Jahrhundert in einer abgeschiedenen Gegend im Osten Islands auf, am Fuß eines Gletschers, mit Blick auf gewaltige Gebirgszüge und das stürmische Meer. Sie ist eine Frau mit geistigen Gaben und dem Mut, von zu Hause wegzugehen, aber ihr fehlt das seelische Rüstzeug, sich in der Fremde durchzusetzen, weil ihre Seele in der Natur wurzelt und in der Beziehung zu ihrer Familie.

Zwei andere große Damen der isländischen Literatur, Steinunn Sigurdardóttir und Kristín Marja Baldursdóttir, dürfen in der Liste der Neuerscheinungen aus Island nicht fehlen. Sigurdardóttir, seit ihrem Roman Herzort in Deutschland bekannt, ist mit Der gute Liebhaber vertreten, Baldursdóttir lässt nach mehreren Publikationen das Buch Sterneneis folgen. Beide Schriftstellerinnen thematisieren vorwiegend weibliche Lebensschicksale, das harte Tagwerk früher, den gegenwärtigen Alltag, schreiben über Problemkinder und Liebeserfahrungen. Die bei uns inzwischen verpönte „Frauenliteratur“ erlebt als isländische Variante einen erfrischenden Aufwind. Denn hier dominiert Authentizität und nicht das viel zitierte Glas Champagner zum Frühstück. Realistisch und feinfühlig modellieren die Autorinnen echte Frauenschicksale zu eindrucksvollen literarischen Werken.

 

Isländer sind auch nur Menschen: Sie wollen nicht nur ihre Tradition bewahren, Fische fangen, in heißen Badetöpfen sitzen und viele gute Bücher lesen. Sie suchen Anschluss an die moderne Welt, greifen gierig nach den neuesten technischen Errungenschaften, lieben supergroße Geländewagen. Island hat seit dem Zweiten Weltkrieg mit diesem Widerspruch zu kämpfen – und, wie wir spätestens seit dem Bankendesaster wissen, auch mit den Abgründen, die dieser Wunsch nach Fortschritt und Moderne aufreißt.

Der Schriftsteller Einar Már Gudmundsson stellte sich nach der Bankenkrise an die Spitze einer Bewegung, die vehement die Politiker kritisierte und ihr Fehlverhalten anprangerte. Seine im letzten Jahr erschienene Streitschrift Wie man ein Land in den Abgrund führt. Die Geschichte von Islands Ruin ist eine brillante Polemik über korrupte Politiker und die menschliche Gier.

Seine literarischen Fähigkeiten hat Gudmundsson in zahlreichen Romanen entfaltet. Wie so viele seiner KollegInnen greift er dabei auf die eigene Familiengeschichte zurück, und die ist meistens düster: Armut, Alkoholismus, Kinderreichtum und harte körperliche Arbeit vor der grandiosen Kulisse einer zerklüfteten Gletscherwelt sind darin die Leitmotive. Sein Buch Vorübergehend nicht erreichbar basiert auf Briefen, die sich ein inhaftierter Dealer und seine Freundin geschrieben haben. Beide waren drogen- und alkoholsüchtig, konnten die Sucht jedoch mit ihrer Liebe überwinden. Gudmundsson war davon so fasziniert, dass er mit dem Einverständnis der Beteiligten diesen Roman verfasste, in den er seine eigene Alkoholabhängigkeit integrierte. Was das Buch deutlich von einer Betroffenheitsgeschichte abhebt, ist die raffinierte Konstruktion, mit eleganten Übergängen zwischen Fiktion und Autobiografie. Bei aller ungeschminkten Direktheit, mit der Gudmundsson dieses für die isländische Gesellschaft hochbrisante Thema anpackt, hat er Mut zu einem zarten Pathos, das nicht in Gefühlskitsch mündet.

 

Nicht angenehm zu lesen ist Frauen, der fünfte Roman von Steinar Bragi, der zur isländischen Avantgarde gezählt wird. Sein Reykjavík ist nicht mehr das des Fischfangs und der alten Gemütlichkeit, sondern in einen modernen Glasturm mutiert, in dem Überwachungskameras jeden Schritt seiner Bewohner aufzeichnen. Die Protagonistin Eva kehrt nach einigen Jahren in New York zurück, kann mietfrei in diesem Glasturm leben und wird immer mehr in einen Alptraum hineingezogen. Eines Tages schließlich wird sie, in ihrer Wohnung gefangen, grausamen Folterungen und Psychospielen ausgesetzt. Diese schwer verdauliche Kost wird leider zu vorschnell in die Schublade „Kritik am zügellosen Kapitalismus“ geworfen. Doch Bragi hat sich in erster Linie intensiv damit auseinandergesetzt, dass die Demütigung der Frauen und ihr Missbrauch als Sexualobjekt längst nicht aufgehört haben, bloß weil sie heutzutage Ministerpräsidentin werden können.

 

Besonders einem Autor ist es zu verdanken, dass wir alle nordische Schwermut vergessen und uns einfach köstlich amüsieren können. Mit Zehn Tipps, das Morden zu beenden und mit dem Abwasch zu beginnen und seinem neuen Roman Eine Frau bei 1000° setzt der Komiker, Stand-up-Comedian, Drehbuchautor, Künstler und Schriftsteller Hallgrímur Helgason Maßstäbe in der Kategorie „extrem schräg“. Während in Zehn Tipps ein kroatischer Auftragskiller in Island sein Heil sucht, ist Eine Frau bei 1000° eine absurd komische Lebensbeichte der 80-jährigen Herbjörg und gleichzeitig ein Parforceritt durch die Geschichte des letzten Jahrhunderts, ebenso unwahrscheinlich wie wahr. Historiker werden den Stoff kritisch beäugen, träumende Realisten mit Sinn für rabenschwarzen Humor aber lieben. Für Helgasons Landsleute sind seine Romane eine prächtige Satire auf das angebliche „Sauberland“, für diejenigen, die Island entdecken möchten, eine etwas andere Landeskunde, die sich in keinem der gängigen „Troll-Breviere“ finden lässt.

 

 

Kristín Marja Baldursdóttir, Sterneneis. Übersetzt von Ursula Geiger. Krüger, Frankfurt a. M. 2011. 224 Seiten, 16,95 Euro

 

Klaus Böldl, Andreas Vollmer und Julia Zernack (Hrsg.), Isländersagas. Übersetzt von Wolfgang Butt, Thomas Esser u. a. 5 Bände. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2011. 2676 Seiten, 98 Euro

 

Steinar Bragi, Frauen. Übersetzt von Kristof Magnusson. Antje Kunstmann, München 2011. 272 Seiten, 19,90 Euro

 

Einar Már Gudmundsson, Vorübergehend nicht erreichbar. Übersetzt von Angelika Schamberger und Wolfgang Butt. C. Hanser, München 2011. 320 Seiten, 19,90 Euro

 

Hallgrímur Helgason, Eine Frau bei 1000°. Übersetzt von Karl-Ludwig Wetzig. Klett-Cotta, Stuttgart 2011. 530 Seiten, 22,95 Euro

 

Hallgrímur Helgason, Zehn Tipps, das Morden zu beenden und mit dem Abwasch zu beginnen. Übersetzt von Kristof Magnusson. Klett-Cotta, Stuttgart 2010. 271 Seiten, 19,95 Euro

 

Kristof Magnusson, Gebrauchsanweisung für Island. Piper, München 2011. 208 Seiten, 14,95 Euro

 

Steinunn Sigurdardóttir, Der gute Liebhaber. Übersetzt von Coletta Bürling. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2011. 224 Seiten, 17,95 Euro

 

Sjón, Das Gleißen der Nacht. Übersetzt von Betty Wahl. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2011. 282 Seiten, 18,95 Euro

 

Kristín Steinsdóttir, Im Schatten des Vogels. Übersetzt von Anika Lüders. C. H. Beck, München 2011. 256 Seiten, 19,95 Euro

 

Jón Kalman Stefánsson, Der Schmerz der Engel. Übersetzt von Karl-Ludwig Wetzig. Piper, München 2011. 352 Seiten, 19,99 Euro

 

 

Astrid Braun, Jahrgang 1958, studierte Germanistik und Romanistik. Sie war viele Jahre als Verlagsredakteurin, Literatur- und Kulturjournalistin tätig und ist seit 2005 Geschäftsführerin des Stuttgarter Schriftstellerhauses.