Ausgabe: November/Dezember 2012


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Im Satzbau dieser Gegend

Ein Porträt des Christian-Wagner-Preisträgers Lutz Seiler

Von Michael Braun

In einem Essay über seinen Schreibort, einer traumwandlerischen Umkreisung des von einem Kiefernwald umschlossenen Hauses im märkischen Wilhelmshorst, hat Lutz Seiler einmal den Wahrnehmungsmodus beschrieben, an den seine Dichtung gebunden ist. Der Erzähler berichtet hier von seinen täglichen Spaziergängen rund um das Haus, vom Holzsammeln als einer Art Initiationsritus, der die Sinne schärft und ästhetische Erfahrung erst ermöglicht. Ganz nah tritt Seilers Ich an die Dinge heran, es starrt wie absichtslos auf eine Kiefernrinde oder einen Grashalm und beobachtet, wie die Naturstoffe langsam in das Bewusstsein eindringen. Lutz Seiler bewohnt in Wilhelmshorst das abseits gelegene Haus, in dem von 1953 bis 1971 der Dichter Peter Huchel lebte, den die DDR in seiner Zeit als Herausgeber der Zeitschrift Sinn und Form in die Isolation gedrängt und de facto unter Hausarrest gestellt hatte. „Vierzig Kilometer Nacht“ von Berlin entfernt, umgeben von dichtem Wald, entfaltet sich das poetische Sensorium des Dichters.

Lutz Seiler, der diesjährige Christian-Wagner-Preisträger, hat ein ganz unmittelbares, fast animistisches, mit topografischen Wegmarken eng verwachsenes Korrespondenzverhältnis zur Natur. Das Holz der im Garten verstreuten Äste, die Rinde der Bäume, die über dem Haus in Wilhelmshorst ein „Kieferngewölbe“ bilden, sind hier gleichsam die Urmaterie der Poesie. Es geht in Seilers Gedichten um einen Zustand des träumerischen Geöffnetseins gegenüber den Naturstoffen, es geht um die Hingabe an Substanz und Stofflichkeit der Dinge. „Als Kind hatte ich ein Körper- und ein Sprachgefühl von Holz“ – dieses Diktum aus einer Wiener Poetikvorlesung bildet den Refrain seiner Poetik. Als Grundkategorien seines Schreibens benennt Seiler die Wahrnehmungszustände seiner Kindheit, die in Textqualitäten transformiert werden sollen: „Abwesenheit“, „Müdigkeit“ und „Schwere“.

Besonders die „Schwere“, die Gravität der Dinge, hat es Seiler angetan. „jedes gedicht“, heißt es einmal, „geht langsam / von oben nach unten, von unten / nach oben, es verwahrt / seine sture natur …“. Das ist als ein lakonischer Hinweis auf die Affinität des Dichters zu den „Knochen der Erde“ zu verstehen, zu den Substanzen und Mythologien des Bergbaus, dessen fatale Wirkungen er in seiner DDR-Kindheit miterlebt hat. In einem industriepolitisch besonders vergifteten Winkel in Ostthüringen ist der 1963 geborene Lutz Seiler aufgewachsen. Sein Kindheitsdorf Culmitzsch wurde 1968 dem Erdboden gleichgemacht, als sich der Uranbergbau der DDR durch die Landschaft fraß. Von frühen Kindheitsbildern in der ostthüringischen Provinz, vom giftigen Glanz der Dinge in der vom Uranabbau verseuchten Gegend und von der glücklichen Entrücktheit und zugleich der existenziellen Verlorenheit seiner Protagonisten handeln mehr oder weniger chiffriert die Gedichte der Bände pech & blende und vierzig kilometer nacht wie auch einige Erzählungen seines Bandes Die Zeitwaage.

Das Bekenntnis zu einer lyrischen Kosmogonie der Dinge formulierte Seiler bereits im Titel seines Debütbands berührt / geführt von 1995, einem Gedichtbuch, das ohne jede öffentliche Resonanz blieb und nur dank des Dichterkollegen und Poesie-Scouts Wulf Kirsten einige Kenner erreichte. In der lakonischen Formel „berührt / geführt“ verbirgt sich nicht jene Regel des Schachspiels, nach der ein Zug nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, sondern eine emphatische Ding-Poetik. Der Dichter zeigt sich affiziert von den Dingen seiner Herkunftswelt und lässt sich von ihnen „führen“. Die Grundfarbe dieser Herkunftslandschaft ist in diesem Fall ein giftiges Schwarz, die Farbe der Pechblende, des schwarz glänzenden kryptokristallinen Urangesteins, das auf dem Terrain seiner Heimatdörfer ans Tageslicht befördert wurde.

In seinem vieldeutig funkelnden Gedichtband im felderlatein aus dem Jahr 2010 hat Seiler die Bewegungsrichtung seiner Poesie geändert – statt in die Vertikale strebt sein Gedicht nun in die Horizontale. In sieben Kapiteln setzen die Fußreisenden dieser Gedichte zu immer neuen Expeditionen an in versunkene Kindheitslandschaften und in alte und neue Lebenswelten des lyrischen Ich. Bereits in seinem fabelhaften Gedichtbuch pech & blende ließ Seiler sein Alter Ego „im felderlatein“ herumvagabundieren, symbiotisch verbunden mit diversen Naturstoffen.

Das wichtigste Sinnesorgan für den Landgänger in den neuen Gedichten ist nun nicht mehr das Auge, sondern das Ohr. Wir erleben hier die poetische Transformation von Landschaft in ein akustisches Szenarium, das erfüllt ist von leisen Geräuschen. Wenn Seilers lyrische Protagonisten die Wälder, Felder und Chausseen in den Grenzräumen Berlins und der Mark Brandenburg durchqueren, dann weiten sich die Landschaften zu Echoräumen, in denen das lyrische Ich auf oft mystische Weise gereizt wird vom Rauschen, Knistern, Schleifen und Schaben der Dinge. Dabei werden die geografischen Signale oft nur in den Titeln der Gedichte gesetzt. Wer den Gangarten von Seilers Gedichten folgt, der partizipiert in einem doppelten Sinne an jenem Nomadisieren „im felderlatein“, von dem der Titel seines neuen Gedichtbands spricht. Denn die „Felder“ und Umgebungen dieser Poesie sind nicht nur real existierende Ort- und Landschaften zwischen Berlin, der Mark Brandenburg und Thüringen, sondern eben ganz buchstäblich auch Sprach-Landschaften, die wie eine Schrift dechiffriert werden.

In fast allen Gedichten ist das langsame, manchmal fast somnambule Gehen der Ausgangspunkt von Erkundungen, die eine sinnliche Aneignung des jeweiligen Landstrichs anstreben. Die Erkundungsgänge folgen dabei mehr der Struktur dunkler Phantasmagorien und Traumreisen als romantischen Landschafts-Imaginationen. Es sind emphatische Wahrnehmungszustände und überwältigende Offenbarungs-Augenblicke, in denen sich das Ich durch seine Suchbewegung ein neues Koordinatensystem der Erfahrung erarbeitet und die Welt sich dann in neuem Licht zeigt. Die strenge Kompositionstechnik Lutz Seilers, seine Engführung der Metaphern und die dichte Verfugung der Bilder und Assoziationen, verlangen viel Aufmerksamkeit vom Leser. Die fließende Bewegung der Verse wird mitunter von schroff gesetzten Brüchen und Zeilensprüngen verlangsamt. Manchmal scheinen diese hochmusikalisch strukturierten Gedichte die Aufgabe des von Seiler zitierten alten griechischen Orakels in Dodona zu übernehmen, das einst aus dem Rauschen der Bäume die Zukunft weissagte. Die Geschichtsversessenheit des Autors, in dessen Gedichte auch die Stimmen der Toten flüstern, wirkt ansteckend. Die poetischen Tiefbohrungen „im satzbau dieser gegend“ erzeugen einen geheimnisvollen Sog, wie er nur substantieller Poesie eigen ist: „von / eckstein zu eckstein springt / die spreu deines schattens. Linien, auf denen / die stimmen der toten telefonieren. Wenn du / das nachsehen hast, atmen sie dir direkt / ins gesicht: untermieter, hausbuchführer, aranka, die / aus den kniekehlen gesungen hat ... auch / deine eignen knochen musst du weiter denken, kommata / im satzbau dieser gegend“.



Zum Weiterlesen:

pech & blende. Gedichte. 2000
vierzig kilometer nacht. Gedichte. 2003
Sonntags dachte ich an Gott. Aufsätze. 2004
Die Zeitwaage. Erzählungen. 2009
im felderlatein. Gedichte. 2010
(Alle im Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M.)

Aranka. Ulrich Keicher Verlag, Warmbronn 2010
Im Kinobunker. Ulrich Keicher Verlag, Warmbronn 2012

Heimaten. Essay. Wallstein Verlag, Göttingen 2001

Im Kieferngewölbe. Peter Huchel und die Geschichte seines Hauses (zusammen mit Hendrik Röder und Peter Walther). Lukas Verlag für Kunst- und Geistesgeschichte, Berlin 2012



Die Verleihung des Christian-Wagner-Preises an Lutz Seiler findet am 10. November um 17 Uhr im Theater im Spitalhof in Leonberg statt. Die Laudatio hält Sibylle Cramer.
Am 11. November liest Lutz Seiler um 11 Uhr im Christian-Wagner-Haus in Warmbronn.



Michael Braun, geboren 1958, lebt als Literaturkritiker für die NZZ, den Tagesspiegel, den SWR und den Deutschlandfunk in Heidelberg. Er hat einige Anthologien herausgegeben sowie 2007 bis 2011 den Deutschlandfunk-Lyrikkalender. Soeben erschien sein Lyrik-Taschenkalender 2013 im Verlag Das Wunderhorn.


2012_06_seiler.pdf

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