Ausgabe: Januar/Februar 2013


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In der Schwebe

Aus der Vergangenheit die Gegenwart erzählen

Hermann Lenz zum hundertsten Geburtstag am 26. Februar 2013

Von Matthias Ulrich

Mit so etwas muss ein junger Schriftsteller erst einmal fertig werden: Wie ein jugendlicher Greis wirke er, er solle das Schreiben doch bleiben lassen, so sagten sie es ihm auf der Lesung der Gruppe 47, Anfang der fünfziger Jahre. Er war zum Vorlesen eingeladen und fiel durch, »erledigt«, lässt er den Schriftsteller Eugen Rapp (und sein Alter Ego) in seinem Roman Der Fremdling resümieren.

Als »Fremdling« und »erledigt«, so sah sich Hermann Lenz lange Zeit selbst. Die anderen Autoren kamen ihm wie “Fußballspieler” vor, wie Kampfnaturen. Ihm fehlte die protzige Sicherheit. Er blieb in der Schwebe. Trotzdem ist aus Hermann Lenz einer der inspirierendsten Autoren der Nachkriegszeit geworden. Peter Handke rühmte die Prosa, die in Versunkenheit und Erinnerung entstehe und nichts Gekünsteltes habe, so dass sich beim Lesen der Lenz’schen Sätze ein »Zustand wachsender Ungestörtheit und so etwas wie Geborgenheit« einstelle. Anna Katharina Hahn, Norbert Hummelt, Peter Hamm, Hanns-Josef Ortheil oder Rainer Moritz, Kritiker oder Autoren, sie alle berufen sich auf Hermann Lenz und rühmen die Qualität seiner Sprache. Erfahrung und Empfinden verwandle er in einen eigenen Erzählton. Hermann Lenz schreibt nicht realistisch, er möchte nichts Arrangiertes erzählen, Sprache dient ihm zum Entwurf einer Welt. In dem neunbändigen Zyklus Vergangene Gegenwart wird keine Geschichte erzählt, es ist weder Familienroman noch historischer Roman, vielmehr taucht der Erzähler über die Figur des Eugen Rapp in die Gedanken-und Wahrnehmungswelt eines Schriftstellers ein, der seine Zeit beobachtet. Im Schreiben befreit er sich von der oberflächlichen Meinungs- und Kommentierungswut.

Den am 26. Februar 1913 in Stuttgart geborenen, in Künzelsau aufgewachsenen Autor hat man mitunter als »schwäbischen Proust« bezeichnet. Eine Charakterisierung, die durchaus zutreffend ist, denn wie Marcel Proust geht er nicht von einer Realität aus, die er schreibend nachformt, sondern davon, wie das Vergangene, die verflossene Zeit, im eigenen Bewusstsein entsteht. Was er erinnert, ist die Realität des Dichters, nicht, was normalerweise darunter verstanden wird. Diese Realität setzt sich zusammen aus Wahrnehmungen, Gedanken, Selbstkommentaren, Dialogen, Stimmen und Beschreibungen. Die Gehirnforschung zeigt uns heute, wie sehr Realität im Kopf tatsächlich konstruiert wird.

Der junge, seiner Schreibexistenz noch unsichere Eugen Rapp findet eines Tages auf dem Bücherwagen eines Buchhändlers eine Proust-Ausgabe, übrigens bei den »Ausrangierten«. Proust hat ihn in seiner schriftstellerischen Haltung bestärkt, ihn beeinflussten aber auch die großen Erzähler und Dichter des 19. Jahrhunderts, allen voran Adalbert Stifter und Eduard Mörike, und Marc Aurel gibt ihm in seinen Selbstbetrachtungen eine Vorstellung von gedanklicher Gelassenheit und Tiefe.

Wie Proust in der Adels- und Bourgeois-Gesellschaft des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts seinen Erzählstoff findet, so Hermann Lenz in den Dienern, Kutschern, Feinschlossern, Wappenmalern, Offizieren und Damen der württembergischen  Gesellschaft. Lenz ist ein Wanderer, ein Flaneur, einer, der Aufsätze über Stuttgart, seine Straßen, Ecken und Winkel schreibt. Der dem Bewusstsein seiner Zeit nachspürt und der in der Beschäftigung mit dem Vergangenen eine Erweiterung der Lebenskenntnisse sieht, was, so der Autor, allemal hilfreich sei, und zwar für die Gegenwärtigen.

Hermann Lenz arbeitet nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft als Sekretär des Stuttgarter Kulturvereins, später bis 1971 des Süddeutschen Schriftstellerverbands, seine Frau Hanne ist Verlagslektorin. Sie wohnen in der Stuttgarter Birkenwaldstraße bei den Eltern, die ganz auf seiner Seite sind, denn der Kunsterzieher Friedrich Hermann Lenz versteht allzu gut, dass sein Sohn nach dem Überstehen des Krieges nur noch schreiben will, und auch seine Mutter, Elise Lenz geb. Krumm, unterstützt ihn. Sie ist eine ausgezeichnete Klavierspielerin und hat das Konservatorium besucht. So gibt es im Stuttgart der 1950er Jahre Menschen, die diese fragile Schriftstellerexistenz – Lenz spricht von seinem »ramponierten Nervenkostüm« – stützen und ihm das Schreiben ermöglichen. Sein erstes Buch Das stille Haus erscheint 1946 in der Deutschen Verlagsanstalt und wird von Thomas Mann als bedeutsam gelobt.

Vor dem Krieg schon hat Hermann Lenz in der Neuen Rundschau des S. Fischer-Verlags veröffentlicht. Seine Frau lernt er als Student der Kunstgeschichte, Archäologie und Germanistik in München kennen. Heiraten darf er die Halbjüdin im Dritten Reich nicht, aber er bleibt bei ihr. Er steht an ihrer Seite. Und noch die 95-jährige Hanne Lenz, die ich in München besuchen durfte, sagt mir, dass sie sich durch Hermann Lenz in den Bombennächten, als sie nicht in den Schutzraum durfte, geschützt fühlte, weil er unverbrüchlich zu ihr hielt. Er ist ihr Gefährte und ihr Schild. Nach dem Krieg heiraten sie und bleiben ihr Leben lang zusammen, was auch nicht immer einfach war, so Hanne Lenz. Sie hat selbst schriftstellerische Ambitionen und veröffentlicht 1946 die Erzählung Das Nachtkarussell. Aber ein Schriftsteller in der Familie reiche, sagt sie, und Hermann sei der bessere. So ist die Geschichte von Hermann und Hanne Lenz auch die Geschichte einer großen Liebe.

Peter Handke hat mit seinem Aufsatz »Tage wie ausgeblasene Eier« in der Süddeutschen Zeitung 1973 Hermann Lenz den Weg in die literarische Öffentlichkeit gebahnt. Er wird Autor des Suhrkamp Verlags, sein Hauptwerk Vergangene Gegenwart wird zeitweise als neunbändige Buch-Kassette angeboten. 1978 erhält er den Büchner-Preis und 1987 den Petrarca-Preis zugesprochen, für ihn selbst »ein Wunder«.

Als das Haus der Eltern, in dem Hermann Lenz bis zu seinem 62. Lebensjahr gewohnt hat, 1975 auf Wunsch seiner Schwester verkauft werden muss, fühlt sich der Stuttgarter Gemeinderat nicht zuständig. Viele setzen sich für ihn ein und wollen auch die Stuttgarter Ehrenbürgerschaft für Hermann Lenz erreichen, so etwa Hanns-Josef Ortheil, aber der Gemeinderat bleibt taub. Hermann und Hanne Lenz ziehen voller Wehmut nach München. Dort stirbt er 1998 an Herzversagen, sie überlebt ihn um zwölf Jahre.

Neben Eduard Mörike wird Hermann Lenz im literarischen Gedächtnis der Stadt bleiben. Seine Dichtung lehrt, was Wahrnehmung und die innere Erfahrung für einen selbst bedeuten kann. Sie vertieft das eigene Bewusstsein der Gegenwart.

Eine Ehrung hat Hermann Lenz in Stuttgart schließlich doch erhalten: Unterhalb der Kunstakademie am Killesberg, an der oberen Birkenwaldstraße, gibt es seit 2001 eine Hermann-Lenz-Höhe. Von dort aus sieht man wunderbarerweise ins Offene.

 

Zum Weiterlesen:

Verlassene Zimmer. Roman. Suhrkamp TB 436. 223 Seiten, 9 Euro

Im Suhrkamp Verlag sind einige Romane, Gedichte und Erzählungen von Hermann Lenz lieferbar, außerdem Briefwechsel mit seiner Frau Hanne und Peter Handke sowie Poetik-Vorlesungen. Empfehlenswert sind die antiquarisch erhältlichen Werke: Der innere Bezirk. Roman in drei Büchern, 1980, Stuttgart. Porträt einer Stadt, 2003, und, von Rainer Moritz herausgegeben: Einladung, Hermann Lenz zu lesen, 1988.

In Künzelsau, wo Hermann Lenz seine Kindheit verbrachte, wird am 24. Februar um 11 Uhr in der Hirschwirthscheuer eine Ausstellung mit Manuskripten, Erstdrucken, Bildern und Alben eröffnet. Der Titel »au net schlecht« war Lenz’ Kommentar zu einer ersten Ausstellung 1990.

 

Matthias Ulrich, geboren 1950, lebt als Autor und Lehrer in Remseck / Neckar. Er war Herausgeber von Flugasche und Noxiana, beschäftigt sich seit langem mit Hermann Lenz, zuletzt mit einem Vortrag beim Literatursommer 2012, und schreibt Erzählungen, Essays, Romane. Im Frühjahr 2013 erscheint sein Roman Der Himmel über Chiloé bei der edition 8 in Zürich.

2013_01_Hermann_Lenz.pdf

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