Das Leben schreiben

Die Autorin Jenny Erpenbeck erhält den Schubart-Literaturpreis der Stadt Aalen

Von Katharina Granzin

Alles Erzählen sei letztlich im Irrealis gehalten, sagte Jenny Erpenbeck in einem Interview, das sie anlässlich des Erscheinens ihres Romans Aller Tage Abend im letzten Herbst gab. Das ist einerseits natürlich wahr und doch andererseits ein irgendwie unpassendes Understatement. Denn der Irrealis des Erzählens wird normalerweise nicht so bewusst ausgestellt, nicht annähernd so sehr auf seine extremen Möglichkeiten geprüft wie in Erpenbecks neuem Roman. Mit Aller Tage Abend erreicht die Autorin eine hoch reflexive Ebene des Erzählens, auf der das Erzählte nicht allein die Form eines existenzphilosophischen Gedankenexperiments annimmt, sondern gleichzeitig als Versuch über das Erzählen selbst fungiert. Fünf Tode durchlebt Erpenbecks Protagonistin, den ersten als Säugling, den letzten als Greisin. Viermal wird ihr von der Erzählerin wieder das Leben geschenkt, eine neue Existenz im „Was wäre, wenn …“-Modus eingeleitet. Fast ein komplettes Jahrhundert durchmisst der Roman und spiegelt im Schicksal – oder in den Schicksalen – seiner Hauptfigur die Wege und Irrwege der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Einen derart weiten zeitlichen Horizont eröffnet Jenny Erpenbeck allerdings nicht zum ersten Mal. Auch ihr Roman Heimsuchung umspannte beinahe das gesamte letzte Jahrhundert. In formaler Geschlossenheit und literarischer Konsequenz geht Aller Tage Abend nun noch ein Stück weiter. In diesem Roman ist eine höhere Abstraktionsstufe erreicht.

Jenny Erpenbeck ist eine Meisterin darin, aus Leben Literatur zu machen. Sehr häufig ist schon über die biografischen Hintergründe ihrer Bücher geschrieben worden, aber sicher nicht deshalb, weil sich Erpenbecks Werk durch die Kenntnis von Fakten besser erschlösse. Ein solches Wissen ist nicht nötig, denn ihre Texte stehen für sich selbst. Zwischen den Worten, die sie so achtsam und poetisch präzise setzt, entstehen Welten aus vielfach möglicher Bedeutung. Alles, worüber sie schreibt, wächst im Zuge eines überempfindlichen Umgangs mit der Sprache gleichsam weit über sich hinaus, bleibt nur zum Teil es selbst und wird zur Metapher für etwas vielfach Größeres. So verhält es sich mit dem Haus am See, das im Zentrum von Heimsuchung steht, und so ist es mit dem Leben der Protagonistin, deren fünf mögliche Tode in Aller Tage Abend imaginiert werden.

Das Haus am See hatte sein Vorbild in jenem realen Haus im Brandenburgischen, das Jenny Erpenbecks Familie gehörte, bis es nach der Wende dem Alteigentümer zurückgegeben werden musste. Und etliche Elemente im Leben der Hauptfigur von Aller Tage Abend sind dem Leben von Erpenbecks Großmutter entliehen, der in der DDR hochgeehrten Schriftstellerin Hedda Zinner.

Die 1967 geborene Jenny Erpenbeck entstammt einer Schriftstellerdynastie. Nicht nur ihre Großeltern – Hedda Zinner war mit dem Autor und Dramaturgen Fritz Erpenbeck verheiratet – schrieben Bücher. Auch ihre Eltern, der Physiker John Erpenbeck und die 2008 verstorbene Arabistin und Übersetzerin Doris Kilias, sind und waren Menschen des Wortes. Jenny Erpenbeck selbst ist zunächst einmal Opernregisseurin geworden. Doch bereits als 1999 ihr literarisches Debüt Geschichte vom alten Kind erschien und von der Kritik einhellig als außergewöhnlich gepriesen wurde, war klar, dass die Schriftstellerei für diese Autorin deutlich mehr war als ein kontemplatives Hobby.

Schon in der Geschichte vom alten Kind zeigt sich ihre Fähigkeit, Bilder und Topoi zu finden, die eine Geschichte über sich selbst hinausweisen lassen. Das Bild vom heranwachsenden Kind, das plump und unbeholfen eines Tages mit einem leeren Eimer auf der Straße steht und nicht weiß, wohin mit seinem Leben, wurde automatisch als Sinnbild des nach der Wende orientierunglosen DDR-Bürgers aufgefasst. Eine eindeutige Interpretation bietet der Roman nicht an, doch die Gestalt des dicken Mädchens, das, innerhalb des Klassenverbands zum typischen „Opfer“ prädestiniert, eine beruhigende Befriedigung darin findet, in der Gemeinschaft unauffällig mitzulaufen, ist an sich schon merkwürdig genug, um als Metapher aufgefasst zu werden. Während aber das „alte Kind“ noch eine sozusagen künstlich ersonnene Figur ist, die in zeichenhafter Weise auf das wirkliche Leben verweist, geht Jenny Erpenbeck in ihren jüngeren Romanen anders vor. Elemente aus der Realität des wahren Lebens werden der Literatur anverwandelt, in Literatur umgewandelt, um dann in ihrer neuen, uneigentlichen Zeichengestalt auf die größeren Zusammenhänge des Lebens zurückzuverweisen.

Dieses Verfahren, Elemente des eigenen Lebens und Erlebens philosophisch ins Allgemeingültige zu erhöhen, zeugt von einer so bewussten wie selbstbewussten Grundeinstellung zum Dasein. Dabei mag es durchaus hilfreich sein, sich als Teil einer Genealogie zu fühlen. Das Leben an sich, auch das eigene, erscheint womöglich sinn- und zeichenhafter, wenn man sich als ein Glied in einer Abfolge von Generationen verstehen kann und sich somit eine Familiengeschichte etabliert, während die Geschichte im Großen gekennzeichnet ist von dramatischen Brüchen und Werteverschiebungen. Eine solch harmonische Generationenfolge, in der noch die heute erwachsenen Enkel die Werte der Großeltern nachvollziehen können oder teilweise gar nachleben, ist, zumal auf deutschem Boden, keine Selbstverständlichkeit. Als Angehörige einer intellektuellen kommunistischen, antifaschistischen Elite begründeten Hedda Zinner und Fritz Erpenbeck eine Familientradition, auf die sich aufbauen ließ. So gesehen, wuchs die Enkelin Jenny im besseren Teil Deutschlands auf, denn in der DDR konnte aus dieser Startposition eine klar definierte, positive Familienidentität erwachsen, die sich nicht zuletzt aus gesellschaftlicher Anerkennung speiste und aus dem Bewusstsein, dass die Familie stets auf der richtigen Seite gestanden habe.

Bereits in der Geschichte vom alten Kind zeigt sich die Fähigkeit der Autorin, beim Erzählen einen Schritt zurückzutreten und die Geschichte von außen, oder möglicherweise von oben, zu betrachten. Das Debüt kommt ohne auch nur den leisesten Anflug von Bitterkeit oder Ostalgie aus. Noch auffälliger tritt diese beobachtende Haltung in Heimsuchung zutage, jenem Roman, der in gedanklicher und poetischer Ernsthaftigkeit die Geschichte eines Hauses erzählt, das Jenny Erpenbeck immerhin einmal verlorenging. Doch auch dieses Haus fungiert nicht als Ort persönlicher Schmerzverarbeitung, sondern als Stellvertreter aller verlorenen Heime. Auch seine aufeinander folgenden Bewohner treten, so eindringlich die Erzählung ihre jeweiligen Schicksale auch schildert, nicht als Individuen auf, sondern haben ihre Rollen im großen Schicksalsspiel der Menschheit auszufüllen. Konsequenterweise weist die Autorin ihren Figuren niemals Namen zu. Da gibt es „das Kind“, „die Frau“, „den Architekten“. Auch die Protagonistin von Aller Tage Abend bleibt namenlos, ebenso das gesamte Nebenpersonal. Als Bruchstücke kehren im Roman Elemente früherer Erpenbeck-Texte wieder; auch jene Episode findet Verwendung, für deren eindringliche erzählerische Ausgestaltung in der Erzählung „Sibirien“ Jenny Erpenbeck 2001 den Preis der Jury beim Bachmann-Wettlesen in Klagenfurt gewann. Damals, in „Sibirien“, gab es noch ein erzählendes Ich. Aller Tage Abend dagegen kennt nur die personale Figurenperspektive und eine überpersönliche Erzählerstimme, die mit ihrem sanftem „Was wäre, wenn …“ ein ums andere Mal in die scheinbare Unausweichlichkeit eines vorherbestimmten Todes eingreift. Das ist, genau betrachtet, eine ziemlich große Kühnheit. Es ließe sich geradezu als Frechheit empfinden, wenn man zu jenen gehörte, die an die Existenz einer höheren, schicksalsbestimmenden Wesenheit glauben. Die Autorin unterzieht hier den Begriff des Schicksals einer völlig neuen Deutung und ihr literarisches Experiment bedeutet in letzter Konsequenz: Von einem Menschenleben bleibt allein das, was von ihm erzählt wird. Das macht die Literatur zweifellos zur mächtigsten aller Künste. Und Jenny Erpenbeck hat es bewiesen.

 

Zum Weiterlesen:

Aller Tage Abend. Roman. Knaus Verlag, München 2012. 285 Seiten, 19,99 Euro (auch als Hörbuch von der Autorin gelesen)

Dinge, die verschwinden. Galiani Verlag, Berlin 2009. 96 Seiten, 14,95 Euro

Heimsuchung. Roman. Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2008. 192 Seiten, 17,95

Wörterbuch. Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2005. 120 Seiten, 14,90 Euro

Tand. Erzählungen. Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2001. 120 Seiten, 16,90 Euro

Geschichte vom alten Kind. Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 1999. 112 Seiten, 14, 90 Euro

(Alle außer dem neuesten Roman auch als btb für 7 bis 8 Euro)

 

Katharina Granzin lebt in Berlin und schreibt als freiberufliche Kritikerin und Kulturjournalistin unter anderem für die taz, BÜCHER und die Frankfurter Rundschau über Literatur, Film, Musik und Theater.

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