Ausgabe: Juli/August 2013


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„Ich als Haupt-correspondent“

Emma von Suckow im Briefwechsel mit Justinus Kerner

Von Michael Davidis

Ja, es gibt sie noch, die großen, einzelgängerischen Gelehrten in ihrem Glanz und Elend, ihrer Souveränität und Schrulligkeit. Was andere heute als Fünfpersonenprojekt realisieren würden – Hans-Ulrich Simon, langjähriger Leiter der Marbacher Mörike-Arbeitsstelle, hat sie ganz allein bewältigt: die Edition des ebenso umfang- wie inhaltsreichen Briefwechsels zwischen Emma von Suckow, einer literarisch aktiven Dame aus Stuttgarter Adelskreisen, und dem Arzt und Dichter Justinus Kerner im 40 Kilometer von der Residenz entfernten, ländlich biederen Weinsberg. Damit wurde ein Schatz gehoben, der mehr als ein Jahrhundert lang im Magazin des Deutschen Literaturarchivs geschlummert hat. Simons Briefausgabe ist das Resultat immensen Fleißes und stupender Gelehrsamkeit. Schon die Konstitution der Texte nötigt jedem, der einmal mit der schwer lesbaren Handschrift des halbblinden Kerner zu kämpfen hatte, Respekt ab.

Und diese Texte haben es in sich: Der Titel Stuttgarter Gesellschaft um 1850 verspricht nicht zu viel. Bei dem, was Suckow von Empfängen und Bällen, Theateraufführungen und Lesekränzchen, Reisen und Spaziergängen berichtet, handelt es sich nur vordergründig um "leichte Waare". In ihren Klatschgeschichten über Hofintrigen und Skandale, Beförderungen und Entlassungen, Heiraten und Scheidungen, Geburten, Krankheiten und Todesfälle wird die Gesellschaftswelt Württembergs und seiner Hauptstadt so anschaulich wie kaum je zuvor. Manche Gestalten treten einem geradezu in corpore entgegen: der Hobbydichter Graf Alexander von Württemberg und seine Frau, die skandalumwitterte Gräfin Helene, Emilie Reinbeck und der geisteskranke Nikolaus Lenau, selbst König Wilhelm und seine Tochter Marie, die in Kerner eine Art Guru gesehen haben muss. Dabei werden die eklatanten Rang- und Standesunterschiede, aber auch die Spannungen zwischen den Konfessionen im noch recht disparaten Königreich Württemberg deutlich. Stuttgart gehört zwar nicht zu den großen Metropolen, doch auch hier kann man die Wege der Diplomatie verfolgen, auch hier schlagen sich internationale Konflikte nieder, wirken sich wirtschaftliche Krisen aus, werden soziale Kämpfe ausgetragen.

Je rigider die Obrigkeit in Zeiten finsterer Reaktion die öffentliche Meinungsbildung einschränkt, desto wichtiger wird der private Informationsaustausch über aktuelle Ereignisse und deren Hintergründe. So gewinnt auch dieser Briefwechsel gegen Ende des Vormärz an Dramatik. Bei der Beschreibung der "Brotkrawalle" vom Mai 1847 geraten sogar die Unterschichten ins Blickfeld. Im "allgemeinen Freyheitsbrand" scheint die Offiziersgattin Suckow zunächst stärker mit den Demokraten zu sympathisieren als ihr royalistischer Briefpartner, der sie deshalb schon scherzhaft als "rothe Republikanerin" tituliert. Im September 1848 reist sie nach Frankfurt, trifft Mitglieder der Nationalversammlung und freundet sich mit der Frau des Reichsverwesers an. Den Badischen Aufstand von 1849 nimmt sie hingegen vor allem als Störfaktor bei der Planung des jährlichen Sommeraufenthalts in Baden-Baden wahr. Als Mutter eines Soldaten, der sich in der Schlacht bei Gernsbach erste Meriten verdient und später zum württembergischen Kriegsminister avancieren wird, steht auch sie selbstverständlich auf der Seite der Herrschenden. 

Mehr Raum als die Politik nehmen Nachrichten aus der Stuttgarter Literaturszene ein, die sich zwar durch ein blühendes Verlags- und Rezensionswesen auszeichnet, deren Autoren- und Leserkreise aber nicht an demselben Maßstab zu messen sind wie die Berliner Salons oder selbst die Tübinger Gelehrtenzirkel. Das zeigen schon die heute weitgehend vergessenen Namen der Lokalmatadoren: "Dienstag Abend war großmächtiger litterarischer Raout bei Schwab. Höchst merkwürdig! Da sah man Gustav Pfitzer neben Schlesier, Dingelstedt neben Grüneisen und Kurtz und Reinbek – junges Deutschland, sogar pietistische Elemente – kurz was Du Dir nur denken kannst."

Zu den legendären schwäbischen Dichterdomizilen, die sich als Orte standesübergreifender Konversation, politischer Toleranz und gesellschaftlicher Zwanglosigkeit von den Adels- und Botschafterresidenzen abhoben, gehörte neben Gustav Schwabs Stuttgarter Wohnung auch das Kernerhaus. 1838 hat die 30-jährige Suckow den knapp eine Generation älteren Oberamtsarzt zum ersten Mal an seiner Wirkungsstätte besucht, die damals schon Mittelpunkt eines weit gespannten Beziehungsnetzes war. Eine kurz darauf in Cottas Morgenblatt erschienene Schilderung ihrer Villeggiatur in Weinsberg trug, ähnlich wie die betreffende Passage in Schwabs Wanderungen, zur Festigung eines Mythos bei, den Kerner mit seiner Selbststilisierung als "Magus" und als Seelentröster nervlich labiler Damen initiiert und zeitlebens kultiviert hat. Auch das Mitteilungsbedürfnis seines „Haupt-correspondenten“, der treuen Suckow, nützte er bedenkenlos für diese Zwecke aus. Seine Devise "Ich schreibe nur, damit Du schreibest" hat sich unter anderem darin niedergeschlagen, dass von den 830 erhaltenen Stücken der Korrespondenz nur knapp dreihundert von ihm stammen. 

Suckows Anhänglichkeit steigerte sich bisweilen zur quasi religiösen Verehrung. Die Fahrt zu ihrem "Schutzpatron und geistigen Führer", die sie bald größtenteils mit der Eisenbahn unternimmt, ist für sie "keine gewöhnliche Reise, sondern eine Pilgrimschaft". Zu Hause gestaltet sie eine Art säkularen Herrgottswinkel, ein "Eckchen am Fenster, das mir Dein Thal, Dein Haus, die Burg p. darstellt. Zwischen Epheu hängen Dein u Alexanders Bild u alle anderen lieben Erinnerungen u Reliquien gruppiren sich darum." Nach dem Tod ihres Vaters, des einflussreichen bayerischen Grafen Karl zu Pappenheim, ist ihr "Weinsberg die einzige Heimath". Selbst für eine Porträtlithographie posiert sie auf dem Balkon des Kernerhauses vor dem "Geisterturm", der Kirche und der Burg Weibertreu.

Was die Affinität adeliger Damen zu ambitionierten bürgerlichen Literaten betrifft, steht Kerner in einer langen Reihe, die mit Jean Paul nicht beginnt und mit Rilke nicht endet. Die erstaunliche Wirkung dieses Mannes, der in Heines Schwabenspiegel unter die Kleinmeister und -geister, die "Sardellen", subsumiert wird, von denen sich gerade noch der "Hering" Schwab abhebe, beruhte zweifellos nicht nur auf seinem literarischen Werk. Auch seiner medizinischen Kompetenz war, so wacker er seinen Amtspflichten nachkam, ein gehöriger Schuss Scharlatanerie beigemischt. Doch muss Kerner, abgesehen von der an ihm gerühmten Gastfreundschaft und "Herzensgüte", gerade mit seiner Instrumentalisierung der "Nachtseiten" der Romantik, des Okkultismus und der Parapsychologie, einen Nerv der Zeit getroffen haben. Zu seinen eigenen Nachtseiten gehörte neben seinem Adelstick und dem Hang zur schamlosen Anbiederung an fürstliche Mäzene eine Neigung zur Hypochondrie, die in den Briefen an Suckow überdeutlich zum Ausdruck kommt.

Diese Korrespondenz ist aber nicht nur für die Wirkungsgeschichte Kerners und die Entstehungs- und Verlagsgeschichte der Reisebücher aufschlussreich, die Suckow unter dem Pseudonym Emma Niendorf publizierte, sondern in erster Linie als Spiegel der Epoche. Sie umfasst das knappe Vierteljahrhundert zwischen 1838, dem Jahr der Thronbesteigung von Queen Victoria, und 1861, dem Jahr der Proklamation des Königreichs Italien. Das Spektrum der Themen hier auch nur grob zu umreißen, ist unmöglich. Allein mit technikhistorischen Details, von der Erfindung der Daguerreotypie bis zur Ablösung des Gänsekiels durch die Stahlfeder, könnte man Seiten füllen. Wer wusste schon, dass die Turmuhr der Stuttgarter Stiftskirche 1843 mit Gasbeleuchtung versehen wurde (im selben Jahr wie die des Wiener Stephansdoms) oder dass die Kosten für den Bahnhofsbau schon damals aus dem Ruder liefen, weil "die Eisenbahnüberschläge statt auf 20, auf 80 Milionen gingen"?

Der Entschluss, dieses immense Material als Einzelkämpfer zu erschließen, hat allerdings seinen Preis. Simons Warnung, "mit Überlegungen zur Kommentarbedürftigkeit zu beginnen“, hieße „damit nicht mehr aufhören können", kann leider nicht alle Einwände entkräften. Der Verzicht auf Stellenkommentare wird nämlich auch durch ein 250 Seiten umfassendes, mit größter Sorgfalt annotiertes Namen- und Titelregister nicht aufgewogen, zumal dieses "Nachschlagewerk" zwar eine Fundgrube, in seinem mitunter überspitzten Formalismus aber zugleich eine Hürde für den Benutzer darstellt. Bei der Recherche nach manchen Verwandtschaftsbeziehungen oder beim Versuch, einen Überblick über die Publikationen der beiden Protagonisten zu gewinnen, kann man leicht die Geduld verlieren. Und dass zwar Bischöfe, nicht aber regierende Fürsten unter ihren Vornamen angesetzt werden, führt schließlich zu einem Stichwort wie "Deutschland, Kaiser von", unter dem kurioserweise Barbarossa, Ludwig der Bayer und Karl V. aufgeführt sind. Diese Kritik trifft nicht allein den Herausgeber: Nein, es gibt sie offenbar nicht mehr, die zuverlässigen Lektoren, die imstande und willens sind, hochspezialisierte Forscher kompetent zu beraten. In einem Werk wie diesem würde man zum Beispiel Stammtafeln und Karten zur Verdeutlichung der genealogischen und geographischen Zusammenhänge, zumindest aber ein korrektes Inhaltsverzeichnis erwarten.

So viel zum Elend des Privatgelehrten und zur Mühe des Lesers. Doch wird diese Mühe reich belohnt, nicht zuletzt mit einem brillanten Nachwort von über 100 Seiten, das zentrale Themen der Korrespondenz eingehend erläutert. Mit den Passagen, in denen Simon das Bild der Stuttgarter Hautevolee zeichnet, ist ihm eine geradezu exemplarische Verbindung von Mikro- und Makrohistorie gelungen. Niemand, der sich für die Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts interessiert, sollte Geld und Zeit scheuen, um diese Bände zu erwerben und intensiv zu studieren. Als unverhoffte Dreingabe werden ihm zahlreiche Porträts der erwähnten Personen geboten.

An den Vorüberlegungen zur Publikation des bekannten Kerner-Porträts von Emil Orth ist Emma von Suckow beteiligt gewesen. Nach einem Treffen mit dem Zeichner der Randmotive schrieb sie an den Porträtierten: "Poesie u. Religion werden Gestalten, Medicin und Psychologie Embleme". Kerner folgte, auch bei der Wahl der Pflanzensymbole, dann weitgehend ihren Vorschlägen: "Kein Eichenlaub! Efeu u. Weinlaub u. Passionsblumen u. Dornen." Für Hans-Ulrich Simon hätte er sicher den Editoren-Lorbeer vorgeschlagen.

 

Zum Weiterlesen:

Stuttgarter Gesellschaft um 1850. Justinus Kerner und Emma von Suckow: Briefwechsel. Herausgegeben von Hans-Ulrich Simon. 2 Bände. Hohenheim Verlag, Stuttgart 2012 (Veröffentlichungen des Archivs der Stadt Stuttgart, Band 108). 1593 Seiten, zahlreiche Abb., 98 Euro

 

Michael Davidis, Jahrgang 1947, ist Historiker und Buchwissenschaftler. Von 1988 bis 2012 war er im Deutschen Literaturarchiv Marbach für die Kunstsammlungen, die Photographische Sammlung und die Sammlung von Sachzeugnissen zuständig.

2013_04_Suckow.pdf

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1.1 M

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