Ausgabe: Juli/August 2014


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Auf Umwegen zum Ziel – Ein Gespräch mit Heinrich Steinfest über das Eigenleben der Figuren, den Sprachduktus und Gedankenzeichnungen

Nach einem guten Dutzend von Kriminalromanen, für die er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde, hat Heinrich Steinfest 2012 den Roman Das himmlische Kind (Droemer) und Anfang dieses Jahres Der Allesforscher (Piper Verlag) veröffentlicht.

Geboren 1961 in Albury / Australien und aufgewachsen in Wien, lebt er inzwischen überwiegend in Stuttgart – wenn er nicht gerade auf Lesereise ist. Im Herbst erscheint (mit einem Storyboard von Robert de Rijn) bei Reclam seine Neuerzählung Der Nibelungen Untergang.

Der Titel Ihres neuen Buches, Der Allesforscher, leuchtet unmittelbar ein, obwohl es das Wort bisher nicht gab. Wie kamen Sie darauf?
Eine Erfindung meines Sohnes, um den Begriff des Universalgelehrten zu paraphrasieren, also jemand, der sich für alles interessiert und für den es nichts Unwichtiges gibt. Und so sehe ich mich auch als Schriftsteller: kein Ding, das mich nicht beschäftigen würde. Darum meine Liebe zu den Nebenfiguren, die der Geschichte oft ein bedeutendes Gewicht verleihen. Ich will sie präzise beschreiben, während sie wirksam vorbeihuschen. Darum auch die sogenannten Abschweifungen. Die ja kein Dekor darstellen, sondern ganz wesentlich zum tieferen Verständnis der Figuren beitragen. Abschweifungen sehe ich als einen Umweg, der zum Ziel führt, während mir der direkte Weg oft wirklichkeitsfremd erscheint.

„Allesforscher“ war ein Wort, das mich bezaubert hat. Mir war bald klar, das ist ein Buchtitel, und ich habe dann praktisch um den Titel herum die Geschichte entwickelt. Wie um einen Brunnen. Die Geschichte ist der Garten, ich bin der Gärtner, der mit Hilfe der Sprache hier die Beete anlegt, dort gießt. Doch die Geschichte wächst aus dem Boden, was bedeutet, dass ich nur bedingt Einfluss auf meine Figuren nehmen kann. Sie verfügen über ein Eigenleben – ihre pflanzliche Beschaffenheit –, die man als Autor akzeptieren muss, wie bei einem realen Menschen.

Was Sie auszeichnet und was vor allem bei Lesungen deutlich wird, wenn das Publikum lacht, ist Ihre Spezialität der Vergleiche: das „wie“, „als ob“, „gleichermaßen“, diese Vergleiche liegen für uns Leser und Zuhörer nicht auf der Hand, erscheinen skurril, weil sie gewissermaßen ein Umweg sind …Auf der Hand nicht, aber im Kopf schon. Hoffe ich doch Vergleiche zu liefern, die noch niemand vorher gebracht hat und die ein Wow-Gefühl erzeugen; es ist mein künstlerischer Ehrgeiz, einen Tisch so darzustellen, wie noch keiner ihn zuvor beschrieben hat, einen vertrauten Gegenstand neu zu sehen, ihn zu „erfrischen“ und zu „beleben“. Es geht um einen Weckruf, den ich mit neuen Vergleichen schaffen kann, nicht mit ausgelutschten Phrasen, die schon tausendmal  in Büchern standen. Das ist natürlich eine Gratwanderung, mir kommen ja oft Einfälle, Ideen, Vergleiche, bei denen ich im ersten Moment denke, das klingt super, aber dann feststelle, wie wenig der Vergleich in sich stimmig ist. Also muss ein anderer her. Es sollte im Idealfall so sein, dass der Leser, selbst wenn er zuerst mal die Augen aufreißt, beim Überlegen darauf kommt, das stimmt ja. Und Lachen ist eine Art von Akzeptanz, das Akzeptieren auch von etwas Ungewöhnlichem.

Ist es zunächst der Blick des bildenden Künstlers, etwas anders erscheinen zu lassen?
Ich bin durch die bildende Kunst, die für mich vor der Schriftstellerei stand, geprägt worden, auch in diesem künstlerischen Bedürfnis nach Entwicklung eines unverkennbaren Stils, das ist mir als Autor sehr wichtig. Der Duktus. Der Pinselstrich. Die Komposition. Dass nicht alles auseinanderfällt. Oder sich im Weg steht. – Meine Freunde wie meine Feinde müssen mich als unverwechselbar lesen, aber das soll kein Manierismus sein. Klar, die Gefahr ist immer gegeben, sich selbst zu zitieren, aber ich habe den Ehrgeiz, den Stil weiterzuentwickeln. Die Gefahr gehört dazu. Und die Kritiker. Und das Scheitern. Ich bin ja ein großer Fan von diesem Beckett-Satz: „Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.“ Ich übe mich in der Besserscheiterei.

Machen Sie sich Notizen für Beschreibungen, Vergleiche etc.?Notizen schon, aber nicht von Romanideen, obgleich ich durchaus vergesslich bin. Ich denke, wenn ein Einfall gut ist, dann wird er drei Tage später wieder auftauchen. Trotz Vergesslichkeit. Freilich schreibe ich viel auf, wenn ich Leuten zuhöre, auch den Leuten in Filmen.

Apropos Film – welche Rolle spielt er für Ihre Arbeit?Ich bin mit Filmen, mit dem Fernsehen, aufgewachsen, das war das Medium, das mich noch vor der Literatur und der Musik am meisten fasziniert hat. Ich erinnere mich gerne an »Raumschiff Enterprise«, »Fred Feuerstein« und die Sache mit dem schielenden Löwen, an all die Serien, in denen viel mit fantastischen Anteilen gearbeitet wurde: »Immer wenn er Pillen nahm« oder »Bezaubernde Jeannie«. Später kam der Sprung zum Kinofilm und damit auch zur Avantgarde. In dem Milieu, in dem ich aufgewachsen bin, war es bei den jüngeren Leuten wirklich so, dass man beeindrucken konnte, wenn man über Filme gesprochen hat, das war wie bei anderen ihr Bizeps oder ihr schnelles Auto. Mit Filmen konnte man beim anderen Geschlecht punkten. Nächtelange Diskussionen etwa über »2001 – Odyssee im Weltraum«. Die Nachwirkung der Filme war immens. Als Gedankenauslöser wie auch als Klischeeauslöser: eine Zigarette im Mundwinkel zu platzieren wie die Herren Belmondo oder Piccoli. Ein Klischee, aber ein mirakulöses.

Als ich Maler wurde, wurde ich auch Leser, die Lektüre war der Ausgleich zur Malerei, in dieser Zeit ist mein inniger Bezug zur Literatur entstanden. Als ich aber selbst zu schreiben begann, setzte ich auf die andere Seite der Wippe wieder das cineastische Gegengewicht.

Das Malen haben Sie dann aber aufgegeben?
Ja, ich kann nicht zwei Sachen gleichzeitig machen – also auf meiner Seite der Wippe, man würde dann auch zu schwer werden. In dem Moment, als mir die Schriftstellerei wichtig wurde, habe ich die Malerei beendet. 

Wobei im Allesforscher zum ersten Mal Vignetten, Zeichnungen von Ihnen zu sehen sind …
Stimmt, Kritzeleien und Minicollagen: Ich sage gerne, das stammt von den Telefonkritzeleien ab. Wenn man früher beim Telefon stand (man stand ja und ging nicht herum), hat man auf einem Block mit Bleistift oder Kuli kleine Vignetten und Ornamente produziert: Schlingen, Spiralen, Krixikraxi. So habe ich das während der Arbeit an diesem Buch auch gemacht, kleine Schnipsel verklebt und ergänzt durch grafische Kürzel. Das ist auch als Arbeitspause gedacht, nur dass man nicht in den Wald zum Joggen gehen muss, sondern die Pause ein paar Zentimeter neben der Romanarbeit stattfindet. Ich arbeite ja am Computer und habe mir handliche Zeichenbücher angeschafft, in denen ich neben den kleinen Grafiken auch die Namen und Eigenarten meiner Figuren notiere. Um bei meinem ausgedehnten Figurenpark nicht den Überblick zu verlieren: Wie groß ist die Person, wie habe ich sie mir vorzustellen, nimmt sie gerade zu oder ab ...? Ich denke viel darüber nach. Es ist nicht so, dass ich einfach bestimme, ob klein oder groß. Ich habe immer den Eindruck, es gibt eine Wahrheit zu einer Figur, die zu erkunden ist; das dauert oft eine Zeitlang, in der man mit dieser Figur zusammen sein muss, um sie in allen Details zu erkennen. Schreibend begreife ich, mit wem ich es da zu tun habe und was die Figur umtreibt. Auf dem Reißbrett jedenfalls entstehen die Charaktere nicht.

Und der meist ungewöhnliche Name ergibt sich dann oder steht er vorher fest?
Es kommt schon mal vor, dass ich eine Figur mit einem Namen ausstatte und beim Schreiben nach und nach feststelle, dass da was nicht stimmt, der Name falsch ist. Ich habe im Grunde von einer Figur zunächst nur einen einzigen Partikel, das kann ein Name sein, aber auch eine ungewöhnliche Eigenart …

… der fehlende Arm bei Cheng …
… genau, oder die deformierte Nase von Lili Steinbeck. Ich besitze nur ein Detail, eine kleine Idee, und aus diesem Keim entwickelt sich dann der Rest. Deswegen verfüge ich ja auch nie über einen Plot, ich weiß zu Beginn nicht, wie das Ende der Geschichte ausschaut, auch beim Kriminalroman nicht. Das ist eben meine Arbeitsmethode, die zu ändern ich versucht habe, ich wollte mal eine andere Strategie entwickeln, merkte aber, dass es nicht geht. Ich kann die Zukunft des Romans nicht vorwegnehmen, weil der Roman für mich ein Paralleluniversum ist, in dem in vieler Hinsicht dieselben Naturgesetze herrschen wie in der realen Welt. Wie sollte es mir bitte möglich sein, die Zukunft meiner Romanwelt vorherzusehen? Mit Hilfe einer Glaskugel?

Und manchmal wachsen Ihnen die Personen so ans Herz, dass Sie sie mit in den nächsten Roman nehmen, oder liegt das am Krimi-Genre?
Nein, ich hatte nie vor, Serienhelden zu entwickeln, aber es ist tatsächlich so wie im richtigen Leben, es gibt Leute, mit denen man immer wieder zu tun hat und die einen nach vielen Jahren noch interessieren, oder Leute, zu denen man den Kontakt verliert und plötzlich stehen sie wieder in der Tür.

Ich habe, glaube ich, noch nie in zwei Romanen hintereinander dieselbe Figur als Hauptfigur gehabt, mitunter ist es so, dass eine Hauptfigur später zur Nebenfigur wird und umgekehrt. Diejenigen, die serienartig eine Fortsetzung finden, sind ja oft auch sehr verändert, sie verwandeln sich. Den klassischen Helden, der in zehn Romanen gleich auftritt, gibt es bei mir nicht. Er wächst oder er schrumpft.

Sie werden ja immer noch als Krimiautor apostrophiert, obwohl sie mit Das himmlische Kind und Der Allesforscher jetzt andere Romane geschrieben haben. Was ist für Sie der Unterschied, sind die Krimis für Sie genauso wichtige Bücher?
Das macht nur für einen Teil des Publikums einen Unterschied, und für die Rezeption. Ich bemerke jetzt mit dem neuen Buch, dass es Kritiker gibt, die mich bisher nicht besprochen haben, weil sie gewisse Aversionen gegen das Genre haben. Bezüglich der Marktseite kann ich es nicht ganz ignorieren, weil sich ja immer noch die Frage stellt, wo liegen die Bücher, man muss sich ja heutzutage, wenn man zur Belletristik will, erst an den Barrikaden aus Stößen gut verkäuflicher Kriminalromane vorbeikämpfen. Gleichzeitig ist festzuhalten, dass es für eine höhere Anerkennung in der deutschsprachigen Literatur nicht so richtig günstig ist, Krimiautor zu sein: Die oberen Sphären sind der sogenannten ernsten Literatur vorbehalten. Mir selbst schwebte aber immer eine gute Ehe von E und U vor und dass man als Ehestifter bestens den Kriminalroman einsetzen kann. Wenn ich derzeit auf diesen Ehestifter verzichte, dann einfach weil ich eine paar Stoffe behandle, die halt ein anderes Genre verlangen. Also einen anderen Stifter.

Bei Ihrer Lesung des Essays zur Camera obscura neulich im Stuttgarter Literaturhaus fiel mir wieder besonders auf, wie umstellt von Phantastischem und Lebenserfahrung Sie sind, man hat den Eindruck, dass bei Ihnen alles Erlebte, Gedachte präsent ist und alles wie durch Fäden miteinander verknüpft scheint …
Ja, das Verwobensein ist ganz wichtig und die Gabe des Autors, einen Satz zu finden, der alles auf den Punkt bringt. Ein Leser sollte im Idealfall beim Lesen vergessen, dass er ein Buch liest, sondern mitten in der Geschichte sein. Das ist nicht unbedingt nur eine Frage der Qualität, es gibt Bücher von hoher Qualität und trotzdem kann man sich nicht wirklich hineinfinden. Die Hochachtung vor der Sprachgewalt des Autors sollte man eher vergessen, stattdessen zu Hause sein in einer Geschichte, auch in deren schrecklichen Momenten, es geht ja nicht nur ums Wohlfühlen.

Denken Sie beim Schreiben an Ihre Leser?
Immer stärker, muss ich sagen. Früher war das gar kein Thema für mich, aber je älter ich werde, desto mehr denke ich an mehrere mögliche Leser und bin sehr um eine Verständlichkeit des Textes bemüht, ohne meinen Duktus aufzugeben. Ich mache nicht aus zehn Figuren fünf, damit man eine Fernsehserie damit produzieren könnte, aber bei der Gestaltung der Geschichte und ihrer Ausformulierung versetze ich mich in die Position eines potentiellen Lesers. Klar, der ist dann nicht unbedingt der absolute Steinfest-Hasser. So masochistisch bin ich auch wieder nicht. 

Jedenfalls überarbeite ich viel, schnüffle immer wieder am Verfassten. Ein Tag ohne Schreiben oder an einem Text zu basteln, ist für mich nicht vorstellbar, das ist eine Obsession, nicht heilbar, aber indem ich an zwei Romanen arbeite, habe ich die Möglichkeit, immer wieder einen Abstand herzustellen und hoffentlich zu erkennen, wenn Teile aus der Geschichte herausfallen oder unverständlich sind. Es ist nicht mein Ehrgeiz, Leser sinnlos zu verwirren, aber schon, sie mitunter zu verstören, zu animieren, Gefühle von Freude und Mitleid zu evozieren. In erster Linie aber sie zu trösten.

Gilt das Verstören auch in einem politischen Sinn? Sie werden viel um Beiträge für Zeitungen und Zeitschriften gebeten, und das Buch gegen Stuttgart 21, Wo die Löwen weinen, besitzt einen politischen Impetus.
Ich werde derzeit auch immer wieder mal ersucht, mich zu theologisch-religiösen Fragen zu äußern, dabei bin ich weder getauft noch Mitglied einer religiösen Gruppierung, nicht einmal gläubiger Atheist. Aber wie es scheint, habe ich einen Zugang zum Thema, der aus dieser Unabhängigkeit seinen Reiz bezieht. Auch aus meiner Furchtlosigkeit vor dem Spirituellen. Von Gott zu reden, ohne mich zehnmal dafür zu entschuldigen. Weniger um die richtigen Antworten bemüht, als um die richtigen Fragen. Und das poetische Prinzip auf die politische Analyse übertragend. Ich bin ja Schriftsteller, nicht Journalist, und auch als Essayist ein Erzähler von Geschichten. Das Politische lässt sich über das Individuelle beschreiben, wie es den Einzelnen verformt. Und es gibt natürlich gute und schlechte Verformungen. Wobei mich die Kleinbürger mehr interessieren als die Machtfiguren. Ich bin schließlich selbst Kleinbürger, überzeugter dazu.

Und da sind dann noch die Tiere und Kinder in meinen Romanen, keine Hauptfiguren (mit einer Ausnahme), aber sehr wesentlich, denn sie machen etwas mit den erwachsenen Protagonisten, verwandeln sie, stützen und begleiten sie, besitzen als philosophischer Hund von Cheng oder jetzt als das philosophische Kind des Sixten Braun eine heilende Kraft. 

Weil sie einen anderen Blick auf die Welt haben, ein anderes Sprachverhalten, andere Fragen stellen?
Nun, ein Hund, der Lauscher heißt und es peinlich und abstoßend findet zu bellen, schafft natürlich einen anderen Blick darauf, Tier zu sein. Und bei den Kindern – es ist schon sehr animierend, ihnen bei der Weltentdeckung zuzusehen und zuzuhören. Man war ja selbst mal Kind und besaß die Superkräfte der Phantasie. Um solche Superkräfte ringe ich als Autor.

Die Fragen stellte Irene Ferchl.

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