Ausgabe: September/Oktober 2014


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„Ich bin Stephen Dedalus“ – Günter Schöllkopf und sein literarisches Labyrinth

Von Irene Ferchl

Der Name des Künstlers Günter Schöllkopf tauchte in diesem Jahr öfter im Zusammenhang mit dem 100. Geburtstag von Thaddäus Troll auf, dessen erfolgreichste Bücher Deutschland deine Schwaben und Preisend mit viel schönen Reden er illustriert hat. Derzeit zeigt das Hermann-Hesse-Höri-Museum eine sehenswerte Ausstellung seiner Bildwelten, vor allem „zyklische Interpretationen zu großen Themen abendländischer Literatur“: Blätter zu Heinrich Heine, Thomas Mann und Doktor Faustus, zu Ulysses von James Joyce, Porträts und Doppelporträts sowie Grafik aus den Zyklen „Widerstand“ und „Kreuzweg“.

Im kommenden Mai steht der 80. Geburtstag des bereits mit 1979 mit 44 Jahren verstorbenen Künstlers an. Aus diesem Anlass wird sein Werk sicher an weiteren Orten gewürdigt werden, denn es begeistert durch subtile Anspielungen und eigenwillige Interpretationen, die eine große Belesenheit verraten, ebenso wie durch bewundernswertes grafisches Können. Christoph Meckel, eine literarisch-künstlerische Doppelbegabgung wie Schöllkopf, bemerkte dies sofort, als sich beide 30-jährig in der Villa Massimo in Rom kennen lernten. Später sollte Meckel seine Faszination so begründen: „Schöllkopfs Welthaus hat keine Fassade, eine Außenansicht ist nicht da. Der Reichtum des Zeichners steckt im Bauwerk, in nicht geheuren Räumen und Zwischenräumen, in Labyrinthen, die nicht gekennzeichnet sind – Innenansichten ohne Gewähr. Ganze Rudel von Schöllköpfen, ähnlich und in Verkleidung, erscheinen begleitet von Herrschaften aus der Kunst, aus Politik und Unterwelt, Kintopp, Konzerthaus, aus Phantasus’ Grab, aus dem eigenen Maskenverleih, Doppelgänger von Halbgöttern und Halunken […], Finsterlinge und Opfer des Weltgeschehens, Kunstfiguren und Lebende Bilder […], zu gemeinsamer Auferstehung ins Bild gebracht.“

Schon befindet man sich mittendrin im Universum des Künstlers Günter Schöllkopf, in diesem Labyrinth, wo sich einem an jeder Biegung – glücklicherweise leicht identifizierbare – Schöpfer und Protagonisten der abendländischen Kultur in den Weg stellen: Schriftsteller von Villon und Stendhal bis Balzac und Baudelaire, von Franz Kafka bis Robert Walser, von Byron und Shelley bis Virginia Woolf und Gertrude Stein, Gestalten aus der antiken Mythologie, aus der Weltgeschichte und dem deutschen Widerstand, die „Neutöner“ Gustav Mahler, Arnold Schönberg, Igor Strawinsky, Alban Berg und zuletzt in der Serie „Another Sherlock Holmes“ die „klassischen“ Detektive.

Der „Club der toten Dichter“ – denn es handelt sich ausschließlich um Verstorbene – bildet ein an Quantität wie Renommee grandioses Personal, das Schöllkopf um sich versammelt – dies buchstäblich, denn er selbst ist oft mit von der Partie, sei es als Assistenz- oder Stifterfigur neben Blake, mit Giotto und Fra Angelico in Umbrien, sei es an einem Tisch – wie zwischen seinen wirklichen „amici“ – neben Luther, Voltaire und Heine.

Eine besondere Beziehung verband Günter Schöllkopf mit James Joyce: Um den irischen Schriftsteller respektive dessen bahnbrechendes Werk kreist sein umfangreichster Zyklus – zugleich der älteste. Seit 1962 begleiteten Schöllkopf die Romane Ulysses und Finnegans Wake, 170 Blätter seines Œuvres (Druckgrafik, Aquarelle, Zeichnungen) sind allein diesem Themenkomplex gewidmet. Natürlich verändern sich die Gestalten mit der Zeit, werden einerseits typischer (Leopold Bloom gleicht einem feisten Beamten, der Geistliche Mulligan ähnelt Luther), andererseits austauschbar bis zur Dreieinigkeit Ulysses, Dedalus, Joyce.

Seine lange, häufig unterbrochene Beschäftigung mit dem literarischen Universum von Joyce bezeichnete Schöllkopf noch zuletzt als „work in progress“. Formal sind die Blätter sehr unterschiedlich: Da finden sich Skizzen von Situationen („Bloom-Peristaltik“ zeigt den Helden zwanzig Mal auf dem Klo sitzend und Zeitung lesend), menschenleere Architekturzeichnungen, wie Bühnenbilder aufgebaute Szenen voller Akteure auf dem Markt oder im Pub, Einzel- oder Gruppenporträts, freigestellte Figuren mit klarem Strich, feiner Linie oder von Schattenflächen umgeben, freischwebend oder erdverwurzelt, expressive, ja dramatische Darstellungen, fast poppig wirkende Aquarelle – seine ganze künstlerische Bandbreite.

Der Autor selbst taucht eher selten auf. 1965 hat Schöllkopf einen „Joyce-Kopf“ radiert, in dessen rechtsgewendetem Profil sich Figuren tummeln, Wimmelfiguren in verschiedenen Situationen, bacchantisch um ein Fass gedrängt, in erotischen Posen. Erotik und Sinnlichkeit lebte Schöllkopf in diesem Zyklus aus – bekanntlich durfte Ulysses wegen Obszönität 1922 nur gekürzt erscheinen.

Überaus interessant ist, wie Schöllkopf sich dem Werk von Joyce angenähert hat, wie seine Lektüre sich in Notizen, Assoziationen, sprachlicher Kreativität und schließlich in Bildideen niederschlug. Zu sehen ist es in einigen der rund siebzig Notizbücher, mehrheitlich blaue oder schwarze Schulhefte, die im Deutschen Literaturarchiv lagern. Meistens sind nur wenige Seiten gefüllt, in einer leicht lesbaren Schrift, teilweise unterbrochen von Skizzen.

Das Tagebuch zu Joyce mit der Registriernummer 1 (datiert 1977) und dem Titelschildchen „Metamorphosen – Daedalus, Stephen / Bloom, Leopold / Dubl[iner], Por[trät] des Künstlers als junger Mann, Uly[sses], Fin[negans Wake]“ empfängt einen auf der ersten Seite sprachspielerisch: „Leopold Bloom / of Bloom, for Bloom / Booloohoom, blowing / blew, blue / Bloohoom, Bloowho, Bloowhose, Bloohimwhome“. Das klingt wie spontan aus einer Laune heraus geschrieben

Dann folgt eine Auflistung des Namens in verschiedenen Sprachen:

„irisch: O’Bloom / spanisch Don Poldo de la Flora / portugiesisch: Senor Enrique Flor / französisch: Henry Fleur / boom = Lärm / Bloo in me? No. Blood of the lamb“.

Auf der zweiten Seite geht es völlig anders weiter, nämlich mit Notizen zum Roman beziehungsweise zu seiner eigenen Arbeit: Schöllkopf listet witzig und treffend Personen und Eindrücke auf: „Lärm, Trams, Bierwagen / Redakteur / Portier in Uniform, Mütze mit Buchstaben / Hochwohlgeboren Speckhals, Chef / Regenschirm. Bartumrahmt / Großstadtmorgenluftkrach. Hochbetrieb. Straßenbahnschienen.“

Es folgen kleine Zeichnungen: von Anzeigen, von einer Straße, einer Passage oder Galerie und Ideenskizzen für Bilder: „Die Dinge sprechen. Gott spricht. / Der alte Setzer Monks. / Neuestes vom Tage. Alt, gebeugt, geschürzt, bebrillt. Durch seine Hände gehen unzählige Nachrichten vom Tage (Schicksale). / Pessach. / Hinter Bloom die Zeitungsjungen / Nachpfeifen, verarschen / Schuhgröße, Plattfüße / Lerchensängerfüße. / The Oval = Lokal / Gehen eins trinken.“

Man hat den Eindruck, als sähe Schöllkopf einen Film während seiner Lektüre, die Exzerpte sind keineswegs nur Gedankenstützen, sondern Einfälle und Interpretationen, die direkt zur Bildidee weisen.

Dann wendet man die Seite um und ist plötzlich in der Gegenwart, mit Tagebuchaufzeichnungen zum aktuellen politischen Geschehen: „Schleyer Entführung, Terroristenmorde, Sympathisantenjagd, Konfrontation, Verunsicherte hysterische Regierung, Feuer im Arsch, Stammheim, Straßenbahnlinie, Peymann geht, Bambule, Rabatz, Bittgottesdienste, Demonstrationen, Gedenkminute, Polizei.“ Und eingeklebt ist die Zeitungsanzeige für den Fürbittegottesdienst am 17. September 1977 in der Stuttgarter Hospitalkirche für Hanns-Martin Schleyer und die Hinterbliebenen der Opfer des Kölner Mordanschlags.
Dieses für ihn so wichtige Nebeneinander ist bezeichnend für Schöllkopf: Es verbindet sich bei ihm ständig alles mit allem.

Insgesamt existieren 17 Tagebücher beziehungsweise Notizhefte zu James Joyce und seinen Werken und sie sind denkbar unterschiedlich. Auf den 16. Juni 1965 datiert ist ein Tagebuch zu Ulysses – das Datum taucht häufig auf: Bloomsday. Am 16. Juni 1904 spielt der gesamte Roman, dessen 18 Episoden einen Tag im Leben von Leopold Bloom, Anzeigenakquisiteur bei einer Tageszeitung in Dublin, erzählen, seine Irrgänge ähneln den Irrfahrten des Odysseus.

Es existiert auch ein richtiges Maler-Tagebuch, in dem Schöllkopf einzelne oder Doppelseiten farbig grundiert hat, gold, rot, braun, türkis. Leider hat er sie dann nicht als Hintergrund benutzt, wie er überhaupt oft Rahmen zeichnet, exakt mit Lineal, sie aber nicht füllt, sondern – motiviert, inspiriert – vermutlich direkt zum Aquarellblock oder zur Radierplatte greift.

Vielfach finden sich Listen von Personen mit Kommentaren – man kann sie beim genauen Hinsehen in den Bildern wieder entdecken: „herrliche Haltung / schmierige Kappen / Schweinswürste“ – oder Stichworten: „Hochmut, Homosexualität, Erotomanie, Völlerei, Neid, Hörigkeit, Herrschsucht, Spießertum“. Es gibt Gliederungen für diesen 16. Juni, analog den Schemata von Joyce, die jedem Kapitel ein Organ, eine wissenschaftliche Disziplin, eine Farbe, ein Symbol, eine Technik zuordnen und die jeweiligen Protagonisten der Handlung mythologischen und literarischen Personen assoziieren, und es gibt Auflistungen von Symbolen und Motiven aus Schöllkopfs eigenen Bildern: „Fensterkreuz, Brücke, Gruppe, Doppelportrait, Konsole, Tisch (Tresen), Treppe, Meer, See, Rosenschlößle, Olivenbaum, Evangelisten“.

In einem Tagebuch notiert Günter Schöllkopf einen Lebenslauf mit Zeittafel von James Joyce, einmal Daten zur Politik, Literatur- und Kunstgeschichte, ein anderes enthält Leseeindrücke, ein drittes Tintenstift-Porträts, es gibt sogar eine Seite „Bloomsday Short Comix“, eine Bilderfolge, die man heute Graphic Novel nennen würde.

Wie ein Resümee wirkt eine Tagebuchnotiz von 1977: „Joyce verführt zur Pedanterie. Die Schriften sind eine Enzyklopädie, ein Lehrbuch. Die versteckten Rätsel sind zu lösen. Er spurt und man folgt ihm neugierig mit größtem Interesse. Ein Quiz, Gedächtnis im Kreuzverhör. Joyce ,repotenziert’ die Sprache, auch und vor allem die Umgangssprache, den Dialekt, Jargon, Gossensprache, die banalen, abgegriffenen Wörter bekommen ihren ursprünglichen Sinn zurück.“

Und Schöllkopf erwähnt noch einmal ihm wesentliche Punkte: die Verschmelzung fremder und eigener Identität, seine Weigerung, Erklärungen abzugeben, um die Interpretation jedem Betrachter selbst zu überlassen. „Bei aller Disziplin im Technischen zuletzt frei sein, frei durch die Inhalte. Ich werde alles aufeinanderlegen, ich werde viel Herkömmliches aufheben, ich werde hart und gleichermaßen weich, überlegen, wohldurchdacht, nach langer gedanklicher Vorarbeit […] etwas Neues schaffen, nämlich die Aufhebung der Gegensätze durch Übereinanderschichten von scheinbar Unvereinbarem […]. Die unendliche Literatur, die unendliche Musik, die Träume und Erfahrungen eines 25jährigen Schweifens, Überdenkens, Zeichnens, Malens und Lesens sichtbar machen.“

Schöllkopfs Arbeiten mit seinen „Schatzinselbegebenheiten“, wie er sie selber nennt, sind wie ein Labyrinth, in das man sich neugierig hineinbegibt, vergnügt, erwartungsvoll, in dem man manchmal irritiert wird, sogar erschreckt, in dem man sich durchaus eine Weile verirren kann, aber – das zeichnet das Labyrinth ja aus – aus dem man wieder hinausfindet und sich selbst begegnet ist: als Stephen Dedalus, dem Künstler als jungem Mann, dem Telemachos der Odyssee.

Die Ausstellung „Sollen doch die anderen herauslesen, was ich hineingeschrieben habe. Günter Schöllkopf und seine Bildwelten“ ist noch bis zum 2. November im Hermann-Hesse-Höri-Museum in Gaienhofen zu sehen. (www.hermann-hesse-hoeri-museum.de)

Der Artikel basiert auf Irene Ferchls Vortrag „Heine, Joyce und Thomas Mann – Günter Schöllkopf und seine literarischen Tarnkappen“, gehalten am 5. Juni 2014 in Gaienhofen. Ihr Essay Porträt des Künstlers als ernster Joker erschien bei Urich Keicher, Warmbronn 2000.

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1.3 M

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