Zum Briefwechsel des großen Stuttgarter Humanisten – „Reuchlin! wer will sich ihm vergleichen? Zu seiner Zeit ein Wunderzeichen!“

Von Fritz Endemann

Goethes Zeilen passen nicht schlecht ins Stuttgart des Jahres 2014. „Wunderzaichen“ heißt die Oper von Mark Andre, die von der Staatsoper in Auftrag gegeben und im März uraufgeführt wurde. In ihrem Zentrum steht Johannes Reuchlin als gelehrter Kabbalist, der versucht, für seine magisch-mystischen Erkenntnisse des Seins in der modernen Welt Anerkennung zu finden. Das musikalisch eindrucksvolle und dramaturgisch komplexe Werk, das weitere Aufführungen verdient, ist Anlass genug, den historischen Reuchlin, der die längste Zeit seines Lebens in Stuttgart verbrachte, in den Blick zu nehmen. Dazu gibt es jetzt eine fast unwiderstehliche Einladung: den Briefwechsel Reuchlins als Leseausgabe in deutscher Übersetzung, vier schlanke Bände mit knappen Einleitungen und sparsamen Anmerkungen. Sie will gewissermaßen die „Volksausgabe“ der umfangreichen historisch-kritischen Edition des Briefwechsels sein, die die Heidelberger Akademie der Wissenschaften in Verbindung mit der Stadt Pforzheim gleichzeitig vorgelegt hat, und sie verdient hohes Lob, ist sie doch geeignet, durch den unmittelbaren Zugang der Briefe den großen Humanisten einer breiteren Öffentlichkeit nahezubringen.

Die überlieferten 403 Briefe von und an Reuchlin, ergänzt durch weitere Schriftstücke im Anhang, sind nicht nur eine reich sprudelnde Quelle zu seinem Leben und Werk, sondern auch ein weit gespanntes Panorama des europäischen Humanismus, der Republik der Gelehrten und Gebildeten. In dem Briefwechsel entfalten sich philosophische und philologische Diskurse, Kommentare, Kritik und Polemik. In zahlreichen Facetten spiegelt sich vielstimmig der Geist der Zeit – es ist ein Vergnügen, sich hineinzuvertiefen.

Stuttgart wurde durch Reuchlin ein Zentrum dieser geistigen Welt, neben Basel, wo Erasmus von Rotterdam, und Straßburg, wo Sebastian Brant wirkten. Sein Haus stand da, wo Stuttgart als Gestütshof um die Mitte des 10. Jahrhunderts seinen Ursprung hatte, an der schmalen, kurzen Gasse zwischen der Stiftskirche und dem Stiftsfruchtkasten, nach Decker-Hauff die älteste Straße Stuttgarts (heute „Am Fruchtkasten“). In dem aus dem 14. Jahrhundert stammenden unscheinbaren Haus mit der alten Anschrift „Stiftstraße 10“, das an die Rückseite des – späteren – Fruchtkastens stieß, wohnte und arbeitete der 1455 geborene Reuchlin mit einigen kürzeren Unterbrechungen von den 80er Jahren des 15. Jahrhunderts bis zu seinem Tod am 30. Juni 1522. Vor und nach Reuchlin lebten in dem Haus Stiftspröpste und -prediger. Zuletzt gehörte es bis zu seiner Zerstörung 1944 zusammen mit den Häusern Stiftstraße 8 und 9 zum Geschäftsanwesen Zahn und Nopper.

Die schmale Gasse war so etwas wie der Geniewinkel Stuttgarts. Rund 300 Jahre nach Reuchlin wurde das Eckhaus (Nr. 7) durch den Kaufmann und Kunstfreund Gottlob Heinrich Rapp ein kulturelles Zentrum, in dem Künstler und Schriftsteller verkehrten, unter anderen Goethe und Schiller, woran ebenso wie an Reuchlin eine Plakette erinnert.

Von alledem ist heute keine Spur mehr zu sehen. Der Platz, auf dem Reuchlins Haus hinter dem Fruchtkasten stand, ist mit einem halblebigen Bäumchen und einem verwahrlosten Brunnen unwirtlich und alles andere als einladend.

Dass Reuchlin sich in Stuttgart niederließ, ist Graf Eberhard im Barte zu danken. Ihm war der in Pforzheim geborene Magister der freien Künste und Lizenziat der Jurisprudenz vor allem als eleganter Lateiner empfohlen worden. Schon im Frühjahr 1482 nahm er Reuchlin zu Verhandlungen mit Papst Sixtus IV. nach Rom mit. Ein Jahr später wurde Reuchlin württembergischer Rat und Mitglied des Hofgerichts. 1484 wurde ihm seine juristische Kompetenz durch die Promotion zum Doktor des „Kaiserlichen Rechts“ in Tübingen attestiert. Eberhard vertraute ihm wichtige Missionen an und von den überlieferten fünf Briefen an seinen Dienstherrn ist der Bericht Reuchlins über die Krönung Maximilians im April 1486 in Aachen von besonderem Reiz. Als Abgesandter des Grafen, der schon bei der Wahl in Frankfurt zugegen war, schildert er anschaulich und lebendig die Zeremonie mit ihren Widrigkeiten.

Nach dem Tod Eberhards und dem Herrschaftsantritt Eberhards II. 1496 musste Reuchlin ins Exil nach Heidelberg an den Hof seines Humanistenfreundes, des Wormser Bischofs Johannes von Dalberg, ausweichen. Auch dort war er diplomatisch tätig: Im ersten Band des Briefwechsels ist die Rede abgedruckt, die er 1498 in Rom vor dem Borgia-Papst Alexander VI. im Auftrag des Kurfürsten Philipp von der Pfalz wegen dessen Exkommunikation gehalten hat, in elegantem Latein, versteht sich. Sie ist ein Leckerbissen, gemischt aus halb ironischen Komplimenten und geschickter Sachargumentation. Die Szene verdiente ein Bild: Reuchlin in schlichter schwarzer Gelehrtentracht vor dem prunkliebenden Papst, doch es fehlt leider ein authentisches Porträt Reuchlins – seine Mission war übrigens erfolgreich.

Die Jahre zwischen seiner Heimkehr nach Stuttgart 1499 und dem Beginn der Auseinandersetzung über die Bücher der Juden 1511 zeigen Reuchlin unangefochten auf der höchsten Stufe seiner juristischen und humanistischen Laufbahn – entsprechend wächst sein Ansehen und der Briefwechsel nimmt an Zahl und Gewicht der Partner zu. Die Höhepunkte: 1502 wird Reuchlin zu einem der drei obersten Richter des Schwäbischen Bundes ernannt, 1506 erscheint seine Schrift De rudimentis hebraicis (Grundlagen des Hebräischen), Frucht seiner 20-jährigen Studien und der Markstein der beginnenden Hebraistik in Deutschland.

Für die Erfolge in diesen Jahren gibt es ein einzigartiges Zeugnis: die steinerne Tafel mit dreisprachiger Inschrift im Chor der Leonhardskirche, wo sie sich seit 1955 befindet. Reuchlin hatte sie 1501 im Kreuzgang des Dominikanerklosters (der heutigen Hospitalkirche) aufstellen lassen, nicht als künftigen Grabstein, sondern als Verkündung des Ruhmes des Lebenden, des „vir trilinguis“, für die Mit- und Nachwelt. Die Inschriften sind bedeutsam gestuft: die irdische Existenz (Name und Herkunft) in lateinischer Capitalis, griechisch die Auferstehung (anastasis), hebräisch das letzte Ziel „Ewiges Lebens“ (olam ha chajim). Den Kommentar dazu enthält der Brief vom 19. März 1510 an Nikolaus Ellenbog, Mönch in Ottobeuren: „nach meinen Erfahrungen mit verschiedenartigen Texten verbindet mich […] keine von all den Sprachen, die ich erlernt habe, mehr mit Gott als der Gebrauch der heiligen hebräischen Sprache. Immer nämlich, wenn ich hebräisch lese, scheint es mir, als ob ich sähe, dass es eben diese Sprache ist, mittels derer Gott und die Engel vom Himmel her mit den Menschen Umgang pflegten.“

Dieses Bekenntnis, das mehrfach in den Briefen zu finden ist, zeigt auf bewegende Weise, dass Reuchlins Position im Streit um die Bücher der Juden tiefe Wurzeln in seiner Frömmigkeit hat, die sich aus den ersten und reinsten Quellen der göttlichen Offenbarung nähren wollte.

Der Streit um die Bücher der Juden, der Reuchlin in seinem letzten Jahrzehnt stark belastete, ist naturgemäß auch ein Hauptthema in seinem Briefwechsel. Die Auseinandersetzung, die zwischen Reuchlin und seinen Unterstützern einerseits und dem getauften Juden Pfefferkorn und den Dominikanern der Kölner theologischen Fakultät andererseits publizistisch und juristisch geführt wurde, kann wegen ihres Umfangs und ihrer Komplexität hier nicht wiedergegeben werden. Nur so viel: Pfefferkorn, der nach seiner Taufe schon mit judenfeindlichen Schriften hervorgetreten war, hatte beim Kaiser Maximilian I. ein Mandat erwirkt, dass er den Juden ihre Bücher, außer einigen Teilen des Alten Testaments, wegnehmen und sie vernichten dürfe. Im Oktober 1510 erstellte Reuchlin auf Gebot des Kaisers ein Gutachten in dieser Sache. Als Einziger der sieben Gutachter kam er zu dem Ergebnis, dass den Juden ihre Bücher, abgesehen von kaum vorhandenen Schmähschriften gegen den christlichen Glauben, nach dem kaiserlichen Recht nicht weggenommen werden dürfen. Als Pfefferkorn darauf 1511 Reuchlin heftig angriff und verleumdete, schlug dieser mit seiner Schrift Augenspiegel nicht gerade zimperlich zurück. Dann traten die Kölner Dominikaner auf den Plan, mit dem Ziel, Reuchlin zum Widerruf seiner den Juden günstigen Thesen zu bewegen oder, falls er sich weigerte, ihn durch ein geistliches Gericht wegen Ketzerei verurteilen zu lassen. Schließlich gelangte die Sache nach Rom. Dort sprach sich eine Kommission für Reuchlin aus, doch der amtierende Papst Leo X. entschied 1520 durch Machtspruch gegen ihn.

Es ist in hohem Maße spannend, die Wechselfälle dieses Streits zu verfolgen. In der ersten Phase setzten sich die Parteien noch in Briefen auseinander. Reuchlin wird vorgeworfen, mit falschen Gründen „den jüdischen Irrglauben allzu sehr begünstigen zu wollen“; Anklage und Drohung wurden mit Beteuerungen der christlichen Liebe und Fürsorge für den fehlgeleiteten berühmten Mann verbrämt. Reuchlins Repliken sind in ihrer Mischung aus gespielter Demut und halb verhüllter Ironie taktische Meisterstücke. Im weiteren Verlauf ist er bemüht, bei Freunden und Kollegen Unterstützung zu erlangen, damit gewinnt der Briefwechsel in den Jahren um 1515 noch einmal Dichte und europäische Dimensionen. Ein Höhepunkt ist die Epistel vom März 1517 an Papst Leo X., in der Reuchlin seine Verdienste und Fürsprecher aufführt und darum bittet, ihm Frieden und Gemütsruhe zurückzugeben. Dass er den negativen Ausgang schon ahnte, verrät der letzte Satz des Briefes: „Solltet Ihr aber wünschen, dass ich in diesem Leben immerdar der Verfolgung bösartiger Menschen ausgesetzt bleibe, dann will ich mich freuen, dass ich für würdig befunden werde, um Christi, unseres Herrn, willen so schwere Mißhandlungen zu erdulden.“ Damit spielt Reuchlin auf die in der Apostelgeschichte berichtete Misshandlung von Petrus und den anderen Aposteln durch den jüdischen Hohen Rat an.

Das ist die erstaunliche Äußerung sowohl eines starken Selbstbewusstseins wie auch der Treue zur alten Kirche, für die auch das durch ihre Oberen verschuldete Unrecht zu tragen ist. Die Alternative, sich auf die Seite Luthers zu schlagen, der um ihn geworben hatte, lehnte Reuchlin ab, wofür ihn sein Verteidiger Ulrich von Hutten heftig tadelte.

In Stuttgart ist Reuchlin dann doch bei den Lutherischen angekommen. Sein Grab fand er 1522 in der Leonhardskirche, die bald evangelisch wurde, und dort ist der Gedenkstein am richtigen Ort. Die Kirchengemeinde hat, in Zusammenarbeit mit der Württembergischen Landesbibliothek, im Seitenschiff eine sehenswerte Dauerausstellung aufgebaut. Die Stadt Stuttgart hat es sich genügen lassen, eine beliebige Straße im Westen nach Reuchlin zu benennen. Wie wäre es mit einem Reuchlin-Platz dort, wo er gelebt hat und gestorben ist?

 

Zum Weiterlesen:

Johannes Reuchlin. Briefwechsel. Leseausgabe in vier Bänden. Hrsg. von Manfred Fuhrmann und Matthias Dall’Asta, übersetzt von Adalbert Weh und Georg Burkard. Im Auftrag und mit Unterstützung der Stadt Pforzheim. Verlag Frommann-Holzboog, Stuttgart 2000–2011. Jeweils 38 Euro

Johannes Reuchlin. Deutschlands erster Humanist. Ein biographisches Lesebuch von Hans Rüdiger Schwab. dtv, München 1998

Max Brod, Johannes Reuchlin und sein Kampf. Eine historische Monographie.

W. Kohlhammer, Stuttgart 1965. (beide nur antiquarisch)

Öffnungszeiten der Reuchlin-Ausstellung in der Leonhardskirche: Di - Fr  10-16 Uhr, Do 10-18 Uhr, samstags 10-13 Uhr

Fritz Endemann lebt und arbeitet in Stuttgart. Veröffentlichungen und Vorträge vor allem zur Landesgeschichte und zur juristischen Zeitgeschichte, aber auch zu literarischen Themen.

 

 

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