Ausgabe: November/Dezember 2014


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Kühle Romantik – Über die Lyrik von Nico Bleutge

Von Beate Tröger

Beginnen wir mit der Grande Dame der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, die im Dezember ihren 90. Geburtstag feiern darf, denn Nico Bleutge dichtet nicht nur, er rezensiert auch die Gedichte anderer Autorinnen und Autoren regelmäßig so feinfühlig und genau, wie es vielleicht am besten diejenigen können, die selbst Gedichte schreiben. In einem Artikel, den er 2004 anlässlich des Erscheinens von Mayröckers Gesammelten Gedichten zu ihrem 80. Geburtstag in der Neuen Zürcher Zeitung veröffentlichte, heißt es: „Wenn es überhaupt so etwas wie ein Stempelchen gibt, das man Friederike Mayröcker aufdrücken könnte, dann ist es die romantische Sehnsucht nach einer Einheit von Leben und Kunst.“

Auch in Nico Bleutges Lyrik wird man etwas von dieser romantischen Sehnsucht nach der Einheit von Leben und Kunst wiederfinden, wenngleich stärker getarnt, weniger emphathisch artikuliert als in Mayröckers Gedichten, Notaten, Reden und Interviews. Und doch fassen Bleutges Gedichte, wie zum Beispiel das folgende, einem japanischen Haiku ähnelnde, genau wie die von Mayröcker ganz alltägliche, höchst eindringliche Wahrnehmungssplitter in Worte:

„dieser blick zwischen ihr / und der dunstigen scheibe // griff er hinaus, ein flacher schnitt / in die falten der landschaft“ heißt es in der dritten von „Drei Skizzen“, die sich in Bleutges erstem Gedichtband klare konturen aus dem Jahr 2006 finden.

Seine Sprache hat, das zeigt sich an diesem kurzen Gedicht sehr gut, nicht nur etwas sehr Alltägliches, sondern auch etwas Sezierendes, Analytisches und insofern ist es exemplarisch für das Schreiben dieses Autors: Da ist dieser näher bestimmte Blick einer Frau, den der Sprecher des Gedichts hier in Worte fasst. Der Blick wird mit einem Schnitt gleichgesetzt und indem der Sprecher selbst diesen Blick beobachtet und beschreibt, macht er ihn sich ein Stück weit zu eigen, wird er in einer Art Doppelung des Blicks zum Betrachtenden einer Betrachterin.

Mag man beim Lesen der Beschreibung, bei den „falten der landschaft“, zunächst an geothermische Bewegungen denken, die so charakteristische Landschaften wie die Alpen hervorgebracht haben, und den Schnitt des Blickes sich denken als einen scherenschnittähnlichen, könnten andererseits die Falten eines Stoffes, eines Kleides oder sonstigen Gewandes gemeint sein. Mit dieser Assoziation kommt etwas Gewaltsames hinein, das auch eine mögliche (zer-)schneidende Kraft des Blicks der sehenden Frau im Gedicht und des sehenden Sprecher-Ichs beinahe physisch spürbar macht.

Wenngleich die Bilder in Bleutges Gedichten oft mächtig und sinnlich eindrücklich wirken, sind sie zugleich höchst diskret und keineswegs brachial. Das hängt damit zusammen, dass das lyrische Ich in diesen Gedichten häufig nicht ohne weiteres verortbar ist, was der beinahe gänzlich fehlenden Selbstadressierung des Sprecher-Ichs geschuldet ist. Das Ich mutet in diesen Gedichten an wie ein sämtliche Sinne verstärkender, nicht näher bestimmbarer Seismograf oder wie ein Medium, das visuelle und akustische Phänomene der Natur, urbaner Landschaften und städtischer Peripherien vermittels Sprache aufzeichnet und zum eigenen Erinnerungsreservoir reflektierend ins Verhältnis setzt. Durchlässig für die wahrgenommenen Phänomene, versucht dieses Ich umgekehrt, sich sprechend in der Welt zu verankern. Nicht selten ist seine Wahrnehmung vielleicht gar keine gegenwärtige, sondern eine erinnerte, vielleicht nur geträumte. Es bedarf nicht unbedingt der konkreten Anschauung, um ein Gedicht entstehen zu lassen. Und nicht alles, was in diesen Gedichten geschaut wird, muss tatsächlich auch gesehen oder erlebt worden sein, die Vorstellung genügt: »ein durchzug von tau in den gedanken«.

Schnell könnte man bei der Dichte der Bilder überlesen, was an diesen Gedichten beim lauten Lesen deutlich hörbar ist: die Aufmerksamkeit, die Bleutge auf ihre lautliche Gestaltung verwendet, etwa in nachstehenden Versen, die Geräusche der Jagd, die Erregung des Jägers oder auch des gejagten Tiers hörbar machen: »flucht / das rutschen durch pfützen, zweige / belfern im kopf. das huschen, rasch / die nassen flanken. schweißflecke, / beize. und nichts als luft.«

Im Fortschreiben seines lyrischen Werkes geht Nico Bleutge hochgradig konzentriert und konzeptionell vor. Man kann anhand der Titel seiner drei bislang veröffentlichten Gedichtbände nachvollziehen, wie der 1972 geborene Autor sein poetisches Bezugssystem kontinuierlich weiter auf- und ausbaut: klare konturen, so der Titel des Debuts, bezeichnet die Umrisslinien von Körpern. fallstreifen aus dem Jahr 2008 verwendet die meteorologische Bezeichnung für Niederschläge, die, bevor sie die Erde erreichen, in der Luft verdunsten und dabei schleier- oder streifenartige Schleppen bilden. Aus Linien werden Schleppen, die sich in verdecktes gelände, so der Titel des jüngsten Bandes, zur Fläche weiten. Vollzieht man erneut den Dreischritt klare konturen – fallstreifen – verdecktes gelände, wird eine zweite, in gewissem Sinne gegenläufige Bewegung erkennbar. Sie führt von der Klarheit über ein Verschleiern hin zum Verdeckten. Und mehr noch lässt sich schon aus der Reihe dieser Titel ablesen. Sie bezeichnen sämtlich auch grafische oder topografische Gebilde und verweisen darin auf die formale Strenge in Bleutges Schreiben. Man kann auch in der Mikrostruktur der ausschließlich in Kleinbuchstaben gesetzten Gedichte, in ihrem Rhythmus, ihrer fein austarierten Lautlichkeit und Motivik solchen inneren Zusammenhängen und Spannungsbögen nachspüren, die Bleutges Formbewusstsein belegen.

Ebenso gut könnte man in diesem Werk aber auch den Spuren fremder Texte zu folgen versuchen, durch deren Zitation Bleutge die Einflüsse und Korrespondenzen seiner eigenen lyrischen Produktion markiert und präzisiert. In den Gedichten überlagern sich Rezeption und Produktion lyrischen Sprechens und bilden eine poetische Großlandschaft aus, durch die jeder seinen eigenen, wenngleich nicht beliebigen Weg nehmen kann. Nicht immer sind die Bezüge und Verweise allerdings leicht auszumachen. Bleutges Transformation von Heiner Müllers Gedicht „Traumwald“ bildet hier eher eine Ausnahme. Um Bezüge wie die zu Andreas Gryphius, Barthold Hinrich Brockes, Emily Dickinson, H. C. Artmann, Thomas Kling, Jürgen Becker, Inger Christensen, Robert Creeley, T. S. Eliot, Bengt Emil Johnson, Ezra Pound, Gary Snyder und Göran Sonnevi, die der Autor selbst in den Nachworten zu seinen Gedichtbänden nennt, zu erkennen, bedarf es einer gewissen Kenntnis der modernen abendländischen Dichtung. Eine Voraussetzung für die Lektüre der Gedichte ist sie dagegen nicht, es scheint eher von Bedeutung, dass diese Gedichte sich im engen Verweisungszusammenhang fremder Stimmen ihren Hallraum suchen.

In „verdecktes gelände“, dem abschließenden Langgedicht von Bleutges gleichnamigem Band, durchschreitet das Ich eine winterliche Landschaft, in der Zeugnisse der Zivilisation in Form von Häusergiebeln, Bahnschienen oder Zäunen, Hangars und Bunkern ebenso deutlich hineinragen wie die Spuren und Versatzstücke aus Gedichten anderer Lyriker. Von ferne erinnert das Gedicht an Paul Celans „Stimmen“. Das Gelände, das hier begangen wird – „krähen / warten am rand“ – besitzt Anklänge an Bilder Caspar David Friedrichs, etwa an den „Wanderer im Schnee“, und an Wilhelm Müllers Winterreise.

Aus Lektüren und konkreten sinnlichen Eindrücken verdichtet sich in verdecktes gelände die Sprache zu einem der vielleicht eindrucksvollsten Langgedichte, die die deutschsprachige Gegenwartsdichtung in jüngster Zeit hervorgebracht hat: „der versuch, eine landschaft zu finden, auf dem langsamen weg in die luft? bilder, eingerissene seiten, zeilen, die sich erst im hinterkopf entfalten“.

Diese Gedichte wirken tatsächlich im Hinterkopf nach. Von konzentrierter Euphorie und Atmosphären von Wahrnehmungszuständen hat Nico Bleutge im Zusammenhang mit seiner Dichtung einmal gesprochen und damit kommt er genau in den Sprachräumen an, in denen sich Friederike Mayröcker aufhält: in den Räumen einer Sprache, die ebenso sehnsüchtig nach der Einheit von Kunst und Leben sucht. Mag Bleutge ein kühlerer Romantiker sein als die fast zwei Generationen ältere Mayröcker, mag seine Landschaftslyrik sich auch noch so weit entfernt haben von den romantischen Naturbeschwörungen eines Eichendorff – etwas Traumhaftes haftet dieser Dichtung in all ihrer Gegenwärtigkeit, ihren Reminiszenzen an U-Bahnen, Bunker, Beton dennoch an.

Nico Bleutge erhält den Christian-Wagner-Preis 2014. Die Preisverleihung findet am 15. November um ? Uhr im Spitalhof in Leonberg statt, die Laudatio hält Michael Braun.

Zum Weiterlesen:

Die Gedichtbände klare konturen, fallstreifen und verdecktes gelände sind bei C. H. Beck in München erschienen, haben rund 80 Seiten und kosten zwischen 12 und 14,95 Euro.

Beate Tröger, geboren 1973 in Selb/Oberfranken, lebt in Frankfurt a. M. und arbeitet als Literaturkritikerin vor allem für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und den Freitag.

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