Hell und originell – Jan Wagners Gedichte sind Einladungen in die Welt der Lyrik

Von Beate Tröger

Wovon spricht man, wenn man von Natur spricht? Im Allgemeinen, und im Gegensatz zur Kultur, wohl von dem, was nicht von Menschen geschaffen wurde. Doch der Teufel steckt, wie so oft, auch bei diesem Begriff im Detail. Schon Klima und Wetter, dessen Formen wir als naturgegeben zu betrachten gewohnt sind, werden durch menschliches Tun beeinflusst. Um wie viel komplizierter ist vor diesem Hintergrund die mit dem Kompositum Naturlyrik bezeichnete Dichtung, als deren Erneuerer der 1971 in Hamburg geborene Jan Wagner gilt.

Wenngleich sich seine Gedichte häufig mit dem nicht von Menschen Geschaffenen befassen, wenngleich Tiere und Landschaften darin häufig auftauchen, wenngleich Jan Wagner selbst in dem schönen, gemeinsam mit Björn Kuhligk verfassten Band Der Wald im Zimmer über eine Harzreise auf den Spuren von Heinrich Heine im Auftaktgedicht „henri en route (1)“ schwärmt: „kurz hinter göttingen verstellt kein buch / dir mehr die sonne, alle lesesäle / sind grün und duften nach wacholderbeeren. // die morgenluft, die frisch gewaschen über der landstraße hängt: die esel schleppen ihr grau zurück in den stall“, wenngleich hier also durchaus die Freuden der Natur gegen die der Kultur weniger ins Feld geführt als im Feld entdeckt werden („verstellt kein buch / dir mehr die sonne“ – man beachte nebenbei den hier so geschickt gesetzten Zeilenbruch, mit dem die Sonne tatsächlich für eine Augenbewegung länger verstellt bleibt, als es ohne das Enjambement der Fall wäre) – nein, es ist dennoch nicht möglich, Jan Wagners Gedichte unter dem Etikett Naturlyrik zu subsumieren.

Jan Wagner schließt in seinen Gedichten weit mehr auf. Schon mit dem Titel seines Debütbandes Probebohrung im Himmel wird deutlich, dass diesem Schreiben das Analytische, Forschende, auch Tastende eignet, wobei mit dem Begriff „Himmel“ auch hier sicherlich mehr gemeint ist als die naturwissenschaftliche Bedeutungsebene desselben. Man findet in Wagners Gedichten neben der freundlich-wohlwollenden, genau hinschauenden und Analogien zum Menschlichen erschließenden Sicht auf Tiere (darunter „frösche“, „regenwürmer“, „karpfen“, „koalas“, „moorochsen“) und Pflanzen (darunter „giersch“, „fenchel“ und „schlehen“) auch reale, meist aber metaphorisch bedichtete Orte, Landschaften und Länder („hiddensee im dezember“ oder „australien“). Man findet ebenso Gedichte über (und für) Abenteurer und Weltentdecker. Dafür stehen Gedichttitel wie „störtebeker“, „kolumbus“ oder „der schneider von ulm“. (Anders als Bertolt Brecht in seinem titelgleichen Gedicht thematisiert Jan Wagner nicht die von der Kirche missbilligte Auflehnung des Menschen gegen Gottes Macht, sondern die Stimmung in der Stadt, nachdem Albrecht Ludwig Berblingers Versuch zu fliegen endgültig gescheitert war.) Man findet Alltagsgedichte, die so ziemlich jede denkbare Lebenslage in Verse fassen können.

Wagners Gedichte sind also der Natur zugewandt und atmen zugleich Abenteuer- und Pioniergeist. Sie sind nicht selten anspruchslos, was die Wahl ihres Gegenstandes anbelangt. Was auch immer die Welt hervorbringt und was sie im Innersten zusammenhält, alles ist hier potenziell gleich wichtig. Entscheidend sind Affekt, Mittel, Genauigkeit im Medium der Sprache, die ihre Bedeutung gegenüber der lyrischen Tradition zu behaupten hat. Jan Wagners Lyrik nimmt es mit der Tradition auf, indem sie den Formenkanon nicht nur der abendländischen Dichtung aufgreift: Neben Sonetten oder Villanellen finden sich auch japanische Haikus. Sie operiert mit gängigen Metren und dem Stilmittel des Reims, hat dabei aber auch immer eine Lust an der gemäßigten Übertretung oder der Abweichung, wie Wagners erklärte Vorliebe für unreine Reime zeigt.

Welches Gedicht soll man auswählen, um an ihm Jan Wagners Dichtkunst zu erläutern? In den sechs bislang veröffentlichten Bänden finden sich ebenso viele eingängige wie überraschende Beispiele. Dennoch ist „quittenpastete“ aus Achtzehn Pasteten eines, das unter all den so kunstvoll gefertigten, zugleich so unmittelbar überzeugenden besonders heraussticht, da es neben der herbstlichen, zugleich idyllisch wie anstrengend geschilderten Alltagsverrichtung des Marmeladekochens aus den im Rohzustand steinharten Quitten auch eine poetologische Lesart ermöglicht – Beobachtungen, Bilder, Eindrücke bedürfen des alchemistischen Prozesses des Einkochens, um das roh Ungenießbare in eine kleine Kostbarkeit zu verwandeln:
„wenn sie der oktober ins astwerk hängte, / ausgebeulte lampions, war es zeit: wir / pflückten quitten, wuchteten körbeweise / gelb in die küche / unters wasser. apfel und birne reiften / ihrem namen zu, einer schlichten süße – / anders als die quitte an ihrem baum im / hintersten winkel / meines alphabets, im latein des gartens, / hart und fremd in ihrem arom. wir schnitten, / viertelten, entkernten das fleisch (vier große / hände, zwei kleine), / schemenhaft im dampf des entsafters, gaben / zucker, hitze, mühe zu etwas, das sich / roh dem mund versagte. wer konnte, wollte / quitten begreifen, / ihr gelee, in bauchigen gläsern für die / dunklen tage in den regalen aufge- / reiht, in einem keller von tagen, wo sie / leuchteten, leuchten.“

So leuchtend wie die eingekochten Quitten sind Jan Wagners Gedichte. Sie bestehen aus Versen, hell und schnell im Sinne Robert Gernhardts, sie sind gut zu lesen, was vielleicht auch von der Liebe des studierten Anglisten zum anglo-amerikanischen Literaturkosmos, aus dem er regelmäßig übersetzt, befördert wird, einem Kosmos, in dem Unterhaltung und Anspruch keine Gegensätze sind, und sie lassen sich gut mehrfach lesen. Doch anders als die Gedichte Gernhardts, in denen bei aller Leichtigkeit gelegentlich auch Ressentiment mitschwingt, sind die Wagners ganz ohne Abstriche durchdrungen von einer weit umfänglicheren, tiefen Zuneigung zu den Dingen, der Natur, den Menschen, von einem Geist und Gestus, der dem des norddeutschen lyrischen Ahnen Matthias Claudius nahe steht. Es ist eine Dichtung, die Welt und Leben in all ihren geringsten Wendungen und Wandlungen offen, unvoreingenommen, neugierig und entzückt anzusehen bereit ist, dem Entzücken aber stets eine Form zu verleihen mag, die den Überschwang zum Temperamentvollen bändigen, das Pathos in Würde verwandeln kann. Und wo so viel mit Sorgfalt in Verse gebrachte Freude über das In-der-Welt-Sein waltet, springt diese Freude irgendwann unweigerlich auf die Leser über.

In einem Gespräch in dem Band Die Sandale des Propheten unter dem Titel „Das Stück Eis auf dem Ofen“ schreibt Jan Wagner: „Die Poesie ist und bleibt ein universelles Grundbedürfnis. Das Publikum ist riesig, auch wenn es davon vielleicht noch nichts weiß oder wissen will. Ihre Frage sollte also nicht sein, ob es möglich ist, von der Poesie zu leben. Die Frage sollte sein, ob es möglich ist, ohne Poesie zu leben. Und nein: das ist undenkbar.“ Wer noch daran zweifelt, lese in Jan Wagners Gedichten. Wer bereits darin gelesen hat, der versteht, wovon diese Sätze sprechen, der weiß, wie Wagners Verse „leuchteten, leuchten.“

Jan Wagner erhält in diesem Jahr den Mörike-Preis der Stadt Fellbach, der am 22. April im dortigen Rathaus verliehen wird, ebenso wie der Förderpreis an Andre Rudolph. Die Laudatio hält Lothar Müller.

Zum Weiterlesen:
Probebohrung im Himmel. Gedichte. 2001
Guerickes Sperling. Gedichte. 2004
Achtzehn Pasteten. Gedichte. 2007
Australien. Gedichte. 2010
Die Sandale des Propheten. Essays. 2011
Alle im Berlin Verlag, Berlin

Die Eulenhasser in den Hallenhäusern. Drei Verborgene. Gedichte. 2012
Regentonnenvariationen. Gedichte. 2014
Beide bei Hanser Berlin, Berlin

Lyrik von Jetzt. 74 Stimmen (Hrsg. von Jan Wagner und Björn Kuhligk). DuMont Literatur- und Kunstverlag, Köln 2003
Der Wald im Zimmer (mit Björn Kuhligk). Berliner Taschenbuch Verlag, Berlin 2007
Lyrik von Jetzt 2 (Hrsg. von Jan Wagner und Björn Kuhligk). Berlin Verlag, Berlin 2008

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Beate Tröger, geboren 1973 in Selb/Oberfranken, lebt in Frankfurt a. M. und arbeitet als Literaturkritikerin vor allem für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und den Freitag.

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