Ausgabe: Mai/Juni 2015


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Bleiben sollen und gehen müssen – Eine Begegnung mit dem kritischen Heimatforscher Kurt Oesterle, der in seinem Roman Der Wunschbruder den Einbruch der Moderne in sein schwäbisch-fränkisches Dorf beschrieben hat

Von Ulrike Frenkel

Im ersten Satz findet sich die ganze Geschichte in der Nussschale. „Vor einigen Monaten begegnete mir zum ersten Mal nach sehr langer Zeit jener Mensch wieder, der in der Kindheit mein Wunschbruder gewesen war und der mich damals fast umgebracht hätte“, hebt Max, der Ich-Erzähler von Kurt Oesterles Roman Der Wunschbruder, an, in dem auf 533 Seiten entwickelt wird, was den Mittfünfziger mit jenem Wenzel, der sich jetzt Wolfgang nennt, verband und was die beiden schließlich trennte. Es geht um Max’ Aufwachsen in dem Dorf Rotach als behütetes Kind zwischen lauter Erwachsenen einer alteingesessenen Schreinersippe, in die er seinen Schulkameraden Wenzel, den Sohn einer Flüchtlingsfamilie, holen möchte. Die Nachwirkungen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs spielen eine Rolle und die gesellschaftlichen und kulturellen Umbrüche der sechziger und siebziger Jahre. Und all das hängt nicht ortlos in der Luft, sondern ist deutlich fühlbar erzählt anhand einer Gegend, einer Landschaft, einer Mentalität: derjenigen der Leute im Schwäbisch-Fränkischen zwischen Schwäbisch Hall und Gaildorf.

Kurt Oesterle, der bei Walter Jens über Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstands promoviert hat, lange Jahre als Zeitungsjournalist, unter anderem für die Süddeutsche und die Frankfurter Allgemeine Zeitung arbeitete und sich in zahlreichen Aufsätzen mit württembergischen Dichtern, unter anderem Schiller, Uhland und Hauff, befasst, kennt das alles gut, denn er ist dort, in Oberrot, groß geworden. In diesem kleinen Kosmos wurzelt seine kritische Zeitgenossenschaft, seine Poesie des Alltäglichen, der kleinen Welt, die von den großen Ereignissen gestreift, verwundet, verwandelt wird. „Ich denke, dass wir, also die zwischen Anfang der 50er und Anfang der 60er Jahre in der Bundesrepublik Geborenen, Zeugen eines großen Umbruchs auf so vielen Ebenen geworden sind. Das kann ich fürs Dorf dingfest machen, aus den Tiefen der etwas zurückgebliebenen Provinz“, sagt er.

Schon einmal, Anfang der 90er Jahre, hat er deshalb fiktiv über seine Herkunftsgemeinde geschrieben, in dem streckenweise urkomischen, universell übertragbaren Roman Der Fernsehgast. Er handelt von einem Jungen – das Vorbild ist ganz eindeutig der Verfasser selbst –, der in der Not, weil seine konservativen Eltern kein TV-Gerät anschaffen wollen, bei den Nachbarn „fernsehschaut“, wie man so schön sagt. Was er daheim und dort, in realen Räumen und auf dem Bildschirm, beobachtete, wie er dabei „lernte, die Welt zu sehen“ und zu verstehen, ist in einen schwäbischen Schelmenroman verpackt. „Der Fernsehgast war allerdings die leichtere Variante, da habe ich erst mal die Oberfläche abgetragen, das ging weitgehend schmerzfrei“, sagt Kurt Oesterle. Für den Wunschbruder habe er tiefer in seiner eigenen Lebensgeschichte graben müssen. „Man kann der Erinnerung nicht trauen, vieles in dem Buch ist fiktiv, vieles bewegt sich in einem Spannungsfeld: Ich denke oft, das Ereignis ist von dir erfunden, aber der Gefühlsgehalt ist wahr.“

Oesterle wuchs tatsächlich als Einzelkind auf, was einen früher auf dem Land in eine seltsame Sonderrolle versetzte. „Da war immer eine Sehnsucht nach Vollständigkeit, ich war wie ein Schlitten mit einer Kufe, oder ein einzelner Schuh.“ Und es hat einen Jungen wie den Wenzel tatsächlich gegeben in seiner Vergangenheit, die Liebe zu ihm und die Trennung von ihm bezeichnet er als einziges echtes Drama seiner jungen Jahre. „Er hatte ein Schicksal, das man nicht so ohne weiteres korrigiert.“ Auch die teils schrecklichen Schulerfahrungen von Max, der als erster aus seiner Familie einen höheren Bildungsabschluss anstreben soll, gründen wie viele andere Elemente dieses vielschichtigen Buchs auf einem realen Hintergrund. „Was da an Seelen geschunden wurde, was ich für einen Preis für die Bildung zahlen musste, das will ich schon erzählen. Ich würde nicht eine Prügelschule erfinden, wo es keine gab, das wäre nicht in Ordnung. Man hat auch eine Verantwortung der Zeit gegenüber. Sonst muss man nicht autobiografisch schreiben“, sagt Oesterle, der nach schließlich erfolgreich abgelegtem Abitur und Zivildienst in Tübingen, wo er immer noch mit seiner Frau zuhause ist, Literatur, Geschichte und Philosophie studierte.

In siebenjähriger Arbeit gesellten sich dann die fiktiven Elemente zum selbst Erlebten, auf Umwegen über die Frage, wie der Roman denn in der Gegenwart ankommen könne. Max’ und Wenzels Lebenserzählungen sind nun zu einer Doppelbiografie verwoben, die nach mehreren Treffen der beiden Männer nach der Jahrtausendwende eine Art Doppelbilanz ergibt. Wer hat das schwierigere, wer das bessere Leben geführt? Hat die Bildung, die der eine erwarb, ihr Versprechen gehalten oder hat sie ihn vor allem von seiner Herkunft entfernt? Konnte der andere durch die Gründung einer eigenen Familie den frühen Verletzungen entgehen oder ist er dazu verdammt, alte Muster zu wiederholen? Die sinnlich genauen Schilderungen des Heimatdorfs ergänzte der Autor durch ausführliche Recherchen über das Schicksal von Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg. „Die Abschnitte über Max’ Beschäftigung mit dem Böhmerwald waren für mich auch eine Wiedergutmachung an Wenzels Mutter, einer Frau, die man dort, wo sie gestrandet war, nie begriffen hat, man hat sie nur als Asoziale abgelehnt“, erklärt er diese Entscheidung.

Ließ sich durch dieses Verfahren die Frage danach, was denn nun Heimat sei, auch unproblematischer, kitschfrei behandeln? „Alle meine Vorfahren sind keine Weggegangenen gewesen, und mit dem Weggehen verbindet sich auch, ob man will oder nicht, Schuld. Heimat ist für mich, in der Kurzdefinition, dort, wo man nicht mehr ist. Diese Sicht liegt auch daran, dass ich von meinen ehrgeizigen Eltern eine doppelte Botschaft vermittelt bekommen habe: Bleib und geh. Und das geht nicht.“ An diesem Schuldgefühl arbeite er literarisch seit vielen Jahren; als Vater und Mutter in den 90er Jahren mit Mitte beziehungsweise Ende siebzig gestorben waren, habe er aber gemerkt, „dass mir die Menschen viel wichtiger waren als der Ort, und ich erinnerte mich an den wunderbaren Satz von Marcel Proust: Menschen sind Stätten.“ Ort, Herkunft, das Tal, das Haus der Eltern, der Wald, das alles sei seither ein wenig verblasst. „Es hat nicht mehr den Charme oder fast das Wunderbare, das es hatte, solange ich es auf Personen bezogen habe und auf ihre Geschichten, auf die Schrullen meines Großvaters, die Storys, die mein Vater drauf hatte.“ Die seien alle noch Erzähler gewesen, wie das auf dem Land üblich war, „damit konnte man dort früher punkten“.

Setzt er diese mündliche Tradition jetzt schriftlich fort? Schließlich kommt Max, als seine Mutter gegangen ist, der Gedanke: „Jetzt bin ich unser Gedächtnis.“ „Ja“, sagt Oesterle, „ich wollte diese Mentalität, diese Haltung einer alten Welt aufbewahren. Zu der gehören für mich instinktives Wissen, äußerliche Unerschütterlichkeit bei gleichzeitig hoher Emotionalität, fast wie in der Antike oder bei Indianern.“ Verklären wollte er dabei nichts, ihn habe beim Schreiben eine gewisse Angst begleitet, „weil man leicht einen falschen Ton anschlägt. Man kann als Schriftsteller nach der brandigen Geschichte des 20. Jahrhunderts keine Unschuld auf zweiter Ebene erwerben.“

Dass Kurt Oesterle in Der Wunschbruder diese doppelte Aufgabe – bewahren ohne zu verklären – so intelligent wie mitfühlend bravourös lösen konnte, ist für seine Leser ein vielfacher Gewinn.

Zum Weiterlesen:
Der Wunschbruder. Roman. 2014. 533 Seiten, 25 Euro
Der Fernsehgast oder Wie ich lernte die Welt zu sehen. 2012. 190 Seiten, 9,90 Euro
Stammheim. Der Vollzugsbeamte Horst Bubeck und die RAF-Häftlinge. 2007. 230 Seiten, 6 Euro
Alle bei Klöpfer & Meyer, Tübingen

Unter www.kurt-oesterle.de finden sich viele interessante Aufsätze des Autors, unter anderem zu Gustav Schwab, Eduard Mörike, Berthold Auerbach.

 

Kurt Osterle liest am 21. Mai in der Albert-Schweizer-Kirchengemeine in Tübingen, am 12. Juni in der Volksbank Heilbronn und am 19. Juni in der Buchhandlung Wälischmiller in Markdorf.

*

Ulrike Frenkel, Jahrgang 1962, lebt südlich von München und schreibt als freie Journalistin für verschiedene Zeitungen über Literatur-, Medien- und  Gesellschaftsthemen. Daneben leitet sie Lesekreise.

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