Erzählen, um zu überleben – Erinnerung an eine Begegnung mit der Schriftstellerin Maria Beig, die im Oktober 95 Jahre alt wird

Von Karin Kontny 

Fein säuberlich stehen sie da. Notiert auf karierten Bögen. Wörter, Sätze. Schnörkellos. In Druckbuchstaben und fehlerlos aneinandergereiht. Als wären die Worte ohne Mühe aus der Hand geflossen, die so rasch über das Papier streicht, als wolle sie wegwischen, was da steht. „Ich red’ nicht so gerne darüber, was ich mach’“, sagt die schmale Frau mit einer sanften Stimme, die für das raue Schwäbisch, das sie spricht, so gar nicht geschaffen scheint. Das war vor fünf Jahren. Damals lebte Maria Beig gerade eine Woche in ihrer neuen Wohnung in Immenstaad, Erdgeschoss und von der Terrasse aus Blick auf den Bodensee. Viel zu sehr auf dem Präsentierteller. So viel Aufmerksamkeit! Das gefiel ihr genauso wenig wie öffentliche Auftritte, Lesungen oder die Fragen von Journalisten wie mir. „Es fällt mir halt schwer“, erklärte sie mir damals. Viel lieber, meinte sie, empfange sie Besuch, mit dem sie so reden kann, wie sie schreibt. Einfach halt. Weglassen, das ist ihre Kunst, ihr Metier.

Bis heute ist das so geblieben. Maria Beig, die schreibt, seit sie 58 Jahre alt ist, lebt mittlerweile nicht mehr in der eigenen Wohnung, sondern in einem Seniorenstift in Friedrichshafen. Nicht weit also von Senglingen, dem Ort, in dem sie am 8. Oktober 1920 als sechstes von dreizehn Geschwistern mitten hinein in eine Bauernfamilie geboren wurde. Auch in ihrem neuen Zuhause in Friedrichshafen blickt Maria Beig auf den See, den sie so liebt.

Immer wieder bekommt sie hier Besuch. Gäste, mit denen sie reden kann, wie es ihr taugt. Dietlinde Ellsässer etwa, die Schauspielerin aus Tübingen. Oder der Historiker Peter Blickle, der bei der Verleihung des Johann-Peter-Hebel-Preises im Jahr 2004 die Laudatio auf sie hielt. Dann gemeinsam dasitzen, aufs Wasser schauen oder in den Garten. Kein großes Aufheben machen um sich, die eigene Person und das mit dem Erfolg, der einem selbst nicht so ganz geheuer ist. Auch mit 95 Jahren noch nicht. Nein.

Kaum hatte sie 1982 ihren ersten Roman Rabenkrächzen bei Suhrkamp veröffentlicht, feierte die Presse die damals 62-jährige Maria Beig als „literarische Senkrechtstarterin“. Martin Walser lobte und protegierte ihre Arbeit, obwohl er vorher nicht einmal persönlich mit ihr gesprochen hatte. Bei ihr, so der Schriftsteller, werde man „Zeuge des reinen Erzählens“. Es sind Beigs nüchterne Geschichten von Menschen, Tieren und ihrem harten Los auf den Bauernhöfen in ihrer Heimat Oberschwaben, die das Publikum vom Anfang ihrer Karriere an für sie einnehmen. Keine romantisch verklärte Landlust, keine Volkstümelei. Vielmehr das Leben, wie es ist.

Schreibend, das erzählte mir Maria Beig, kann man mit vielem in eben diesem Leben besser umgehen: „Wenn man schreibt, da geht´s schneller als wie man´s lebt.“ Zusammengezurrt sind darum ihre Geschichten, ihre nüchternen Erzählbilder von eigensinnigen Frauen wie der Titelfigur aus Hermine. Ein Tierleben (1984). Hermines Leben als Bauerntochter wird als eine Reihung von Unglücksfällen, die mit Tieren im Zusammenhang stehen, so knapp erzählt, dass manchmal eine halbe Seite ein Jahrzehnt umreißt.

Und dann ist da noch die Magd Babette in Hochzeitslose von 1983. Nur rund vierzig Seiten umfasst dieser Text in scheinbar emotionslosem Ton, der Maria Beigs Protagonistin durch das Leben stolpern lässt. Als Mutter, als Geliebte, Braut, „richtige Hure“ und als barmherzige Schwester. Als Verrückte. Babette, sie strauchelt und fällt und sie steht wieder auf. Sie ist sensibel und stark zugleich. Wie die Autorin des Romans, wie Maria Beig selbst, die sich irgendwie immer verkehrt, immer falsch fühlte dort in der kargen und harten Welt der bäuerlichen Großfamilie, aus der sie stammt. Und aus der sie sich mit einer Eigenwilligkeit befreit hat, die man der schmächtigen Frau mit der heute noch immer fast faltenfreien Haut eines Mädchens kaum zutraut. „Unsere Mutter hat immer gesagt ,Leset ebbes’ – lest was“, erzählt Maria Beig vom Schlüssel der Bildung, der für sie die Tür hinaus aus dem Hofleben im kinderreichen Elternhaus öffnete.

Ja, selten nur ging es daheim, dort auf diesem Hof, lustig zu. Gelitten hat Maria Beig hier ganz wie die Figuren in ihren Geschichten. An einem Tisch im Schlafzimmer hat sie ihr Schicksal später auf Zettel notiert. Morgens um fünf Uhr, um dem Gedankenkarussell zu entrinnen, in das sie die Wechseljahre stürzten. Schlimmer noch als die Depressionen, die Maria Beig schon als junges Mädchen kannte. Schreiben, weil sie damit die „hohlen Stunden“ vertreiben konnte, die sich nach der Frühpensionierung vom Lehrerinnenberuf im Jahr 1977 in ihrem Leben breitmachten. Ihr Mann hat die Schreiberei nie mögen, obwohl sie ihr so viel brachte. Vor einigen Jahren ist er gestorben. In Immenstaad stand eine gerahmte Fotografie von ihm in der Schrankwand in Maria Beigs Wohnzimmer. Hier bewahrte sie auch ihre eigenen Werke auf, chronologisch aufgereiht. „Ein kleiner Schelmenstreich“, erklärte sie mir damals zwinkernd, „jetzt muss er meine Geschichten aushalten, ob er will oder nicht.“

Nicht nur ihr Mann, auch ihr Umfeld kam mit ihrem Schreiben nicht immer zurecht. So reduziert Maria Beig auch schrieb, die Ähnlichkeit mit den Menschen aus ihrer oberschwäbischen Heimat war deutlich, zu klar. Sie porträtierte Geschwister, Verwandte, Nachbarn. Und die waren oft empört. Maria Beig, so dachten sie wohl, schrieb nur, um andere bloßzustellen, um sie lächerlich zu machen – eine Nestbeschmutzerin. Was das Schreiben für Beig bedeutete, dass es ihr Leben einfacher machte, das verstanden sie kaum. Auch nicht, als zahlreiche Ehrungen – der Alemannische Literaturpreis (1983), die Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg (1990), der Literaturpreis der Stadt Stuttgart (1996) oder der Johann-Peter-Hebel-Preis (2004) – sie ein wenig besänftigten und mit Maria Beigs „Arbeit“ versöhnten.

Trotzdem, der letzte Roman der eigensinnigen Schriftstellerin, Ein Lebensweg, den sie im Jahr 2009 vorlegte, ließ viele noch einmal schlucken, obwohl das Buch auf Platz eins der SWR-Bestenliste landete. Dieser Rückblick auf das eigene Leben, dieses Schonungslose, musste das sein? Muss man darüber schreiben, dass man einst ledige Mutter war und den ersten Sohn verheimlichte? Noch schlimmer: Musste man davon erzählen, dass man als Mutter versagt hatte? So viel Offenheit – für Maria Beig zwar eine niedergeschriebene Befreiung, eine Erlösung, für manch andere aber ein großes Problem.

Dass das Schreiben einmal das Ihre werden könnte, das hat Maria Beig selbst nicht geahnt. Nonne wollte sie zuerst werden, wie eine Schwester ihres Vaters, die so „gutmütig und gescheit war“ und für die Mission in ferne Länder reisen durfte. Doch der Nationalsozialismus kam ihr dazwischen. Statt Lehrer wollten junge Männer plötzlich Offiziere werden. Der pädagogische Nachwuchs fehlte und begabte Mädchen wie Maria Beig waren plötzlich gefragt. So sah sie ein, dass nicht die Zeit war, um Nonne zu werden, und machte die Ausbildung zur Hauswirtschafts- und Handarbeitslehrerin. Sie arbeitete in diesem Beruf, solange es eben ging. Ganze 36 Jahre, von 1941 bis zu ihrem vorzeitigen Ruhestand 1977. „Gerade rechtzeitig bin ich gegangen“, erzählte mir Maria Beig damals bei meinem Besuch vor fünf Jahren trocken. Sie hatte genug gehabt nach den vielen Jahren Lehrdienst, den sie auf der Schwäbischen Alb und in Friedrichshafen absolvierte. Und dann habe sie eben angefangen zu schreiben. Weil die Erinnerungen an die Menschen ihrer Heimat kamen. Weil die Zeit dafür reif war. Weil es nicht anders ging, wollte sie überleben.

Heute ist Maria Beig, obwohl geistig hellwach, das Schreiben zu viel geworden. Sie braucht es nicht mehr, um die Zeit zusammenzuraffen und die trüben Gedanken zu verscheuchen oder um das Leben zu bewältigen. Sie liest die Tageszeitung, manchmal auch Bücher. Sie blickt auf den See, lebt zufrieden. Der Gleichmut gegenüber ihrer Vergangenheit ist ihr – wie sie auch am Ende ihrer Autobiografie Ein Lebensweg schreibt –  ein Leitfaden geworden. Die Zeit, das scheint sie zu wissen, geht auch ohne ihr schreibendes Zutun vorbei.

Am 9. Oktober feiert die Stadt Friedrichshafen Maria Beig mit einem literarischen Abend im Kiesel im k42, bei dem unter anderem Peter Blickle, Jaimy Gordon und Johanna Walser sowie Josef Hoben als Moderator auftreten.

Zum Weiterlesen:

Maria Beig. Das Gesamtwerk. Hrsg. von Franz Hoben und Peter Blickle. Klöpfer & Meyer, Tübingen 2010. 49 Euro. Die fünf Bände enthalten acht Romane, 52 Erzählungen und die Autobiografie Ein Lebensweg.

Hochzeitslose, Rabenkrächzen, Ein Lebensweg gibt es auch als TB für jeweils 9,90 Euro

Maria Beig, Aus Oberschwaben. Paradies vorm Ausverkauf. Mit zahlreichen Fotos von Rupert Leser. Eulen-Verlag, Freiburg i. Br. 1985 (nur antiquarisch)

Maria Beig, Die Ruferin. Mit Illustrationen von Eric van der Wal. Pressendruck Eric van der Wal Verlag, Bergen (NL) 1987. 12 Seiten, 40 Euro

Maria Beig zu ehren. Eine kleine Festschrift hrsg. von Peter Blickle und Hubert Klöpfer. Klöpfer & Meyer, Tübingen 2010. 129 Seiten, 16 Euro

 

Karin Kontny, geboren 1976, war Stipendiatin des Evangelischen Stifts in Tübingen und jahrelang Chefredakteurin von artur, einem Magazin für Lebenskultur in Baden-Württemberg, das sie mit ins Leben gerufen hatte. Als freie Journalistin und Reporterin schreibt sie heute unter anderem Bücher (zuletzt 50 Dinge, die ein echter Baden-Württemberger getan haben muss) und verwirklicht gemeinsam mit Musikern, Schauspielern und Künstlern unterschiedlichste Kulturkonzepte.

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