Manhattan Transfer – Der Roman von John Dos Passos – zum Lesen und Hören als multiperspektivisches Großstadtpanorama wiederentdeckt

Von Irene Ferchl

Der Romantitel ist genial: Mit Manhattan Transfer verbindet jeder spontan das Panorama New Yorks, den Ballungsraum Manhattan, Mobilität und Moderne. Er prickelt von Großstadtflair und Multikulturalität, von großer weiter Welt und dem Geist der Roaring Twenties.

Zudem ist er international verständlich – die erste deutsche Übersetzung von Paul Baudisch erschien 1927 bei S. Fischer unter dem Originaltitel, ebenso die französischen und spanischen Übersetzungen.

Der 1896 in Chicago geborene John Dos Passos hatte in Harvard studiert und eine Grand Tour in Europa absolviert, am Ende des Ersten Weltkriegs war er in Paris als Krankenwagenfahrer stationiert und begann ein Studium der Anthropologie an der Sorbonne. Manhattan Transfer erschien 1925 als sein dritter Roman, in dem er erstmals die Technik des »Bewusstseinsstroms« anwandte und zeitlich das erste Viertel des 20. Jahrhunderts aufblättert. Die Literaturgeschichte reiht das Buch zwischen James Joyces Ulysses und Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz als einen der modernen Großstadtromane schlechthin ein.

In den 1960er und 70er Jahren – Manhattan Transfer lag bereits in vielen Auflagen als Rowohlt Taschenbuch vor – las die junge Generation den Roman mit Begeisterung. Der Übersetzer der Neuausgabe, Dirk van Gunsteren, erzählte vor wenigen Monaten in einem Interview mit Manfred Hess, Chefdramaturg beim SWR2Hörspiel: »Ich habe Manhattan Transfer zum ersten Mal mit zwanzig gelesen, kurz nach dem Abitur – es war eine zerlesene englische Taschenbuchausgabe, die ich auf einem griechischen Flohmarkt gefunden hatte. Der Titel hatte mein Interesse geweckt und der Einstieg war verheißungsvoll. Da gab es keine langatmigen meteorologischen Erörterungen, keine umständliche Einführung von Protagonisten, statt dessen: Totale (Stadt im Morgenlicht) – Zoom auf Hafen und Fährboot (Menschenmassen strömen durch das Fährhaus in die Straßen) – Schnitt: Entbindungsstation (ein Neugeborenes wird versorgt) – Schnitt: Fährboot (Gespräche zwischen Passagieren) – Schnitt:  Entbindungsstation, u.s.w. Das war großartig und in seiner Direktheit überwältigend, eher ein Film als ein Buch, als hätte das geschriebene, gelesene Wort plötzlich eine neue Dimension bekommen.«

Die Notwendigkeit einer Neuübersetzung

Van Gunsterens jugendliche Faszination von dieser Art des Erzählens hat sich nicht nur in großer Bewunderung für die amerikanische Literatur, sondern in seiner späteren Übersetzungsarbeit niedergeschlagen. Die Liste der von ihm ins Deutsche übertragenen Autoren ist lang, um nur einige zu nennen: T. C. Boyle, Harold Brodkey, Colum McCann, John Grisham, Patricia Highsmith, John Irving, V. S. Naipaul, Thomas Pynchon, Philip Roth.

Nachdem der SWR seine zwanzigstündige Hörspielfassung von James Joyces Ulysses zur Ausstrahlung am 16. Juni 2012 fertiggestellt hatte, wurde ein Nachfolgeprojekt geplant – nein, nicht Berlin Alexanderplatz, das war vom SWR schon vor Jahren produziert worden, sondern eben Manhattan Transfer. Das Buch war mittlerweile aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden und die alte Übersetzung wirkte verstaubt. Eine neue sollte her; dafür mussten die Erben in den USA, der Rowohlt Verlag und der Hörbuchverlag Hörbuch Hamburg als Partner sowie der Deutschlandfunk als Koproduzent gewonnen werden.

Das Projekt ist gelungen: Ab dem 22. Mai beginnt die dreiteilige Ursendung des Hörspiels in SWR2, gleichzeitig erscheinen das Buch und die CD-Edition des Hörspiels. Dass die Produktion eines nicht geringen Aufwands bedurfte, leuchtet sicher allen ein. Aber warum eine neue Übersetzung des Buches, warum wirkt die bislang vorliegende heute veraltet, sogar falsch?

Dirk van Gunsteren antwortete auf diese Frage: »Die erste deutsche Übersetzung von Paul Baudisch erschien 1927, das heißt zwei Jahre nach dem Original. Ich ziehe meinen Hut vor seiner Leistung. Die expressionistischen Passagen mit ihren Schilderungen des Großstadtgetümmels zum Beispiel sind ihm großartig gelungen. Aber in den 1920er Jahren gab es nur wenige brauchbare zweisprachige Wörterbücher, und die Kenntnis amerikanischer Redeweisen und Realien war äußerst begrenzt. So kommt es dann, das auf dem Broadway nicht eine Straßenbahn (surface car), sondern ein ›Planwagen‹ unterwegs ist. Slang und den Jargon der Unterschicht  – und davon gibt es in Manhattan Transfer eine Menge – beherrschte er im Deutschen nicht (was schon Tucholsky kritisiert hat). Bei ihm sprechen selbst harte Hafenarbeiter im Kasinoton (›Wie geht’s, altes Haus?‹) und sagen Sätze wie: ›Ich besitze keinen roten Heller.‹ Von den lexikalischen Fehlern und Irrtümern einmal abgesehen, ist es vor allem der altväterliche Duktus, der diese Übersetzung so furchtbar verstaubt wirken lässt und einem Werk dieses Ranges nicht angemessen ist.«

Die Umsetzung des Romans in ein Hörspiel

Inzwischen hat Dirk van Gunsteren die Übersetzung der gut 500 Seiten geschafft, auf den ersten Blick mit überzeugendem Ergebnis. Sobald die Korrekturfahnen vorlagen, konnte die Arbeit an der Hörspielfassung beginnen. Mit zwei gewieften Könnern in diesem Metier: dem Regisseur Leonhard Koppelmann und dem Pianisten und Komponisten Hermann Kretzschmar; vor Jahren hatten sie gemeinsam die Hörspielfassungen von Doktor Faustus nachThomas Mann und Der Tod in Rom nach Wolfgang Koeppen realisiert.

Der dritte im Bunde, der SWR2-Chefdramaturg Manfred Hess, notierte zur Zielsetzung der Produktion, dass das Hörspiel aus »spannungsdramaturgischen« Gründen nicht so umfangreich ausfallen sollte wie seinerzeit Ulysses. Eine Beschränkung auf wenige Hauptfiguren und Kürzungen auch wichtiger paralleler Handlungsstränge wurden bewusst in Kauf genommen, um die Geschichten im New York von 1900 bis 1922 engmaschiger als im Original voranzutreiben und nicht in der Vielzahl der Figuren von Dos Passos zu ertrinken. Das Hörspiel kennt kein „Zurückblättern“. Die Besonderheiten der Vorlage wurden betont: die Abwesenheit eines allwissenden Erzählers, der filmisch-szenische Ansatz mit großartigen Dialogen, die damals modernen (und bis heute aktuellen) Themen wie die aufkommende Broadway-Unterhaltungsindustrie, die Großstadt als glitzernde Traumfabrik und Moloch, Migration, Armut, Homosexualität und Abtreibung. Das Zeitkolorit gleicht einer Collage, wird bestimmt vom Nebeneinander: Zeitungsmeldungen, Songs, Straßenbahn und Pferdefuhrwerke, Dampfschiffe im Hafen und Bau der Wolkenkratzer.

Die Menschen – etwa ein junger schwarzer Einwanderer, ein korrupter Gewerkschaftsführer, ein aufstrebender Jurist, eine emanzipierte junge Frau aus der Theater-Boheme, ein Alkoholiker – sind ständig unterwegs, manchmal kreuzen sich ihre Wege, so dass aus knappen Porträts und simultanen Momentaufnahmen ein Netz entsteht, das Volker Klotz einmal als »ein System kollektiv geprägter Alltagsaugenblicke« charakterisierte. Die Hörspielfassung folgt den Protagonisten durch die Wirren der Zeit mit einem groß dimensionierten Aufgebot an Schauspielerinnen und Schauspielern: Fast fünfzig Persönlichkeiten wurden für die hundert Haupt- und Nebenrollen gewonnen, unter anderem Stefan Konarske als Erzähler, Heikko Deutschmann, Tina Engel, Maren Eggert, Imogen Kogge, Ulrich Matthes, Ulrich Noethen, Axel Prahl, Max von Pufendorf, Christian Redl, Sophie Rois.

Die Komposition spielt sehr heutig mit den im Roman zitierten historischen Musiktiteln. Zugleich korrespondiert sie mit der innovativen Montagetechnik von Dos Passos’ Erzählweise; sie wurde mit Musikern eingespielt, die Meister ihres Faches in der Interpretation von Neuer Musik und Jazz sind.

Ein erster Höreindruck jedenfalls entführt einen in das Kaleidoskop einer Weltstadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts – egal, ob am Radio, als Hörbuch oder bei ausgedehnter Lektüre des Romans, Manhattan Transfer verspricht ein ungewöhnliches Erlebnis.

 

Zum Weiterlesen und Hören:

John Dos Passos, Manhattan Transfer. Roman. Übersetzt von Dirk van Gunsteren. Mit einem Nachwort von Clemens Meyer. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg. 544 Seiten, 24,95 Euro, erscheint am 21. Mai.

Ursendung des Hörspiels: am 22., 26., und 29. Mai jeweils um 18.20 Uhr in SWR2, im Juni folgt die Ausstrahlung im Deutschlandfunk. Bearbeitung: Leonhard Koppelmann (Regie) und Hermann Kretzschmar (Komposition), Dramaturgie: Manfred Hess. Produktion: SWR und DLF 2016.

Die CD-Edition des Hörspiels erscheint am 26. Mai bei Hörbuch Hamburg. Laufzeit der 5 CDs 350 Minuten, ca. 20 Euro

 

Irene Ferchl, Jahrgang 1954, lebt in Stuttgart als Kulturjournalistin, Autorin literarischer Reiseführer und Herausgeberin des Literaturblatts für Baden-Württemberg. Soeben ist ihr Buch Über das Land hinaus. Literarisches Leben in Baden-Württemberg bei Klöpfer & Meyer erschienen.

PDF-Datei

3_2016_Ferchl.pdf

Artikel als PDF-Datei zum Download

1.2 M