Ausgabe: Mai/Juni 2017


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Unter freiem Himmel – Landschaft sehen, lesen, hören: Eine Kunstausstellung mit literarischem Mehrwert

Von Irene Ferchl

»Es wird doch nicht irgendwer behaupten wollen, es gebe in Oberstdorf eine solche Landschaft!

Der Titel kann nur ironisch gemeint sein, diese supergenaue geografische Ordnung meint genau das Gegenteil: Es gibt eine solche Landschaft gerade NICHT in Oberstdorf. Und auch sonst nirgendwo auf der Welt. Es gibt sie auf meiner Leinwand, und damit Schluss.«

Ralph Dutli hat sich Alexej Jawlenskys »Oberstdorfer Landschaft« von 1912 ausgesucht, um ein Exempel in Sachen Bildbetrachtung zu statuieren. In der Schule hätten wir vermutlich eine Fünf bekommen, wenn wir dieses expressionistische Meisterwerk mit den Worten »violette Brotlaibe, halluzinogene Eissorten und gestrandete Wale« charakterisiert hätten. Aber sind es nicht höchst anschauliche Vergleiche? Und um wie vieles einleuchtender, als wenn von gegeneinander gesetzten Farbflächen und geschichteten Hügelstrukturen geschrieben würde.

Ralph Dutlis frech-freie Assoziationen öffnen den Blick der BetrachterInnen, indem sie Ehrfurcht nehmen und dazu auffordern, die Augen von Jawlenskys »farbiger Schanze« aus schweben zu lassen.

Kunstbetrachtung und Bildbeschreibung durch SchriftstellerInnen sind in letzter Zeit beliebt geworden, weil sie meist amüsanter sind als die akademische durch KunsthistorikerInnen, und nicht einmal weniger lehrreich. Ein erzählerischer Zugang macht neugierig und regt die eigene Phantasie an, kann Schwellenängste eher beseitigen, denn es ist ja erlaubt und erwünscht, auf einem Bild herumzuspazieren, geführt von jemandem, der oder die auch nicht »vom Fach« ist.

Vor vier Jahren hatte die Karlsruher Kuratorin Kirsten Voigt bereits das Projekt »Unter vier Augen« betreut: damals standen sich fünfzig Porträts aus der Sammlung der Kunsthalle und ebenso viele Texte gegenüber. Diesmal konnten die 53 eingeladenen AutorInnen aus dem umfangreichen Bestand an Landschaften wählen, sodass nun Kunstwerke aus sechs Jahrhunderten beschrieben werden; die neuesten sind ein Bild von Fritz Klemm (1968) und eine Heliogravüre von Daniel Roth (2007), zu denen Peter Härtling beziehungsweise Alexander Eiling sich geäußert haben. Das älteste Bild (aus einer Folge) stammt von einem namentlich unbekannten Maler, dem sogenannten Oberrheinischen Meister, und wird auf 1410 / 20 datiert. Es thematisiert den Besuch des Jesusknaben bei Johannes in der Wüste und ist natürlich kein Landschaftsbild nach heutigem Verständnis: »was auf den ersten Blick wie Natur aussieht, ist also, bei aller Akkuratesse der Darstellung, vor allem Sinnbild, Gleichnis für den göttlichen Geist, der alles durchdringt und die Natur erst geschaffen und ihr die vielfältige Form gegeben hat«. Jenny Erpenbeck betitelt ihren Text mit »Zeugnis ablegen« und sie tut dies mit dem ihr eigenen, gründlichen Eintauchen in die Materie. Man erfährt von der Beziehung der beiden Kinder zueinander, die nicht in den Evangelien, sondern lediglich in Apokryphen und mittelalterlichen Legenden auftaucht, von der Bedeutung der Tiere und Pflanzen, der Mandorla-Form und dem Goldenen Schnitt.

So wünscht man sich Ikonografie: detailliert in der Bestimmung von Motiven und mit kenntnisreichem Hintergrund, zudem angenehm lesbar. Oder hier sogar vor den Bildern hörbar, denn bei dieser Ausstellung sollte man unbedingt einen Audioguide und sich genügend Zeit nehmen, dem einen oder anderen Text zu lauschen. Neben drei SprecherInnen haben Jenny Erpenbeck und Esther Kinsky ihre Annäherungen selbst gelesen, Letztere übrigens zu einer der wenigen völlig menschenleeren Landschaften, dem berühmten Eichenhain »Aus der Serpentara bei Olevano« von Edmund Kanoldt.

Tatsächlich sind die meisten Landschaftsgemälde belebt, denn bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts bestand die Auffassung, erst menschliche Figuren gäben ihnen die Bedeutung und Vollendung – Kirsten Voigt erläutert das in ihrem Nachwort zur Geschichte des Sujets. Sie thematisiert auch die Funktion dieser Kunstwerke, von denen Leon Battista Alberti (1404-1472) glaubte, sie besäßen eine Art therapeutischen Wert, wie die Betrachtung einer heiteren Landschaft. Schon Denis Diderot (1713–1783) meinte hingegen, sie seien Kompensate unseres Naturverlustes, vor denen wir gewahr würden, dass unser zivilisiertes Leben in den Städten ein Irrtum sei.

Außerdem reflektiert Kirsten Voigt die Beobachtungen und Erfahrungen der Betrachter – hier der Autorinnen und Autoren: Ausgehend von der ästhetischen Bildwirklichkeit tauchen Erinnerungen an persönliche Naturerfahrungen auf, an Begegnungen mit anderen Kunstwerken, und lassen im besten Fall eine »Sprachlandschaft als für den Leser offenen Imaginationsraum« entstehen.

Oder, wie es Friederike Mayröcker formuliert: »Die Schönheit eines Kunstwerks kann auch in der Ausschweifung seiner Deformation begründet sein.« Die betagte Dichterin hat sich zeitlebens mit Künstlern und Kunstwerken auseinandergesetzt. In Karlsruhe fiel ihre Wahl auf Nicolas de Staël, an dessen »Landschaft« von 1953 sie kurz und knapp vorbeizugehen scheint und dabei »veilchenweise!« erstaunlich viel Interessantes dazu anmerkt.

Die lyrische Annäherung, wie sie Marion Poschmann und Jan Wagner betreiben, besitzt ohnehin eine eigene Qualität; Poschmann widmet den »Bäumen der Erkenntnis« auf einem Gemälde von Jacob Isaacksz. van Ruisdal Verse zu Luft, Laub und Licht, Wagner nimmt das »Konzert der Vögel« auf dem (gleichfalls um 1670 datierten) Gemälde von Franz de Hamilton gewissermaßnen wörtlich und nennt die Sänger bei ihren Namen: »stellt euch vor, daß sämtliche vögel /  der welt sich in einem baum versammeln: / meise und dompfaff, das leuchtende segel / des schwans, wacholderdrosseln, amseln – […] wie armselig unsere eigene sprache / verglichen mit jener der vögel klingt – /  heckenbraunelle, grasmücke und lerche / wiedehopfe, auerhähne, fink – «

»Ist nicht jede menschliche Wahrnehmung, selbst die streng beobachtende oder die bloß betrachtende (wie jetzt meine), immer auch Interpretation?«, fragt Katja Lange-Müller in ihrem Essay zu Caspar David Friedrichs »Felsenriff am Meeresstrand«, und dieses erstaunlich kleine, kaum mehr als ein Blatt Papier große Bild verleitet sie zu Reflexionen über die Wahrnehmung selbst: die des Malers, der nicht geschaut hat, was er gesehen hat, denn dieses Felsenriff existiert in Wirklichkeit so nicht, und die der Betrachterin, die resümiert: »Je länger ich dieses Felsnadelbündel im endlosen Meer anstarre [fühle ich], wie ich kleiner und kleiner werde, unendlich klein.«

Der Streifzug durch die unterschiedlichsten Landschaften von den alten Niederländern über die mythisch-heroisierenden Künstler des 18. Jahrhunderts (Reinhart, Rottmann) und die Impressionisten (Cezanne, Slevogt) bis zu den Surrealisten (Max Ernst, Magritte) und Abstrakten (Klee, Miro) in Begleitung der Literatur ist wahrlich ein Gewinn; Kirsten Voigt hat neben Literaturwissenschaftlern und Kunsthistorikern wieder namhafte SchriftstellerInnen gewinnen können – um nur noch wenige zu nennen: Alex Capus, F. C. Delius, Arno Geiger, Brigitte Kronauer, Ilma Rakusa, Kathrin Schmidt, Marlene Streeruwitz, Hans-Ulrich Treichel –, und sie haben sich alle merklich für die Gemälde begeistern lassen.

Zusätzlich zum Sehen, Lesen, Hören bietet die Kunsthalle ein Projekt für Kinder und Erwachsene, bei dem im Rahmen von Schreibwerkstätten Texte zu weiteren Landschaftsgemälden entstehen; außerdem gibt es Lesungen und eine Ausstellung von Cornelia Funkes Illustrationen unter dem Titel »Zauberwelten«. 

Eine Reise nach Karlsruhe lohnt sich also unbedingt!

*

Die Ausstellung »Unter freiem Himmel – Landschaft sehen, lesen, hören« ist noch bis zum 27. August in der Staatlichen Kunsthalle in Karlsruhe zu sehen; das gleichnamige Katalogbuch enthält alle 53 gezeigten Gemälde und Detailaufnahmen, die Texte sind abgedruckt und auf einer beiliegenden CD nachzuhören. Hrsg. von Kirsten Voigt und Pia Müller-Tamm. Kerber Verlag, Bielefeld 2017. 408 Seiten, 32 Euro (daraus stammen die Abbildungen).

Am 11. Mai liest Katja Lange-Müller aus »Drehtür«, am 22. Juni führen Marion Poschmann und Ulf Stolterfoht ein »Gespräch über Lyrik«.

www.kunsthalle-karlsruhe.de

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1.2 M

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