Zum 70. Geburtstag des »literarischen Sekretärs der Region« am 16. Oktober – Warum Manfred Bosch keine Romane schrieb

Von Hermann Bausinger

Gekonnt hätte er’s. Wo er seine Landsleute porträtiert, kommt auch die Umgebung ins Spiel, Stimmung des Alltags, Konturen der Landschaft. Wo er in fremdes Milieu eintaucht, begnügt er sich nicht mit exotischen Reizen, sondern rückt das Fremde nahe, ohne die Distanz aufzuheben. Und seine »Langgedichte« im alemannischen Dialekt entwerfen kleine Alltagsszenen trocken und doch so farbig, dass die anbiedernde Komik der gängigen Mundarttheater daneben verblasst.

Der Zufall: Was ihm entgegenkam und ihn herausforderte, gab eine andere Generalrichtung vor. Er war gerade 20, als das Unbehagen an Gesellschaft und Kultur in Engagement und Aktivität umschlug. Das Etikett 68 passt, wenn man dabei nicht nur im Blick hat, was als »höheres Indianerspiel« charakterisiert wurde. Es ging um Arbeit an der Veränderung der Verhältnisse, Happy End in weiter Ferne. Keine Zeit für Romane.

An den Universitäten war viel von der Arbeiterschaft die Rede. Theoretische Gipfeltouren, wenig direkte Kontakte. Wenn Studierende frühmorgens am Fabriktor Flugblätter verteilten, wurden sie manchmal gelobt, weil sie schon auf waren; tatsächlich waren sie noch auf nach endlosen Diskussionen und versanken tagsüber in ihren Betten. Aber Manfred erlebte, was abhängige und harte Arbeit bedeutet, aus eigener Erfahrung, und auch aus der Geschichte der Arbeit und der Arbeiterschaft. Diese Geschichte und ihre Konsequenz in der gegenwärtigen Situation suchte er zu vermitteln; darüber schrieb er und dazu gab er literarische Dokumente heraus.

Im Grunde war damit die Spur gelegt, der Manfred Bosch künftig folgte. Im Feld der Wissenschaft, der Dokumentation, der historischen Erkundung ist es eine generelle Gegebenheit, dass jeder erreichte Befund neue Fragen aufwirft, weiteres Dokumentationsmaterial sichtbar macht und zur Fortsetzung reizt – unabhängig vom Gewicht und von der Bedeutung. Insofern kann man in diesem Automatismus des Weitersuchens durchaus eine psychologische Voraussetzung der Fachidiotie sehen, aber es ist auch der Impuls für erstaunlich umfassende Überblicke über Entwicklungsprozesse und geschichtliche Konstellationen.

Manfred Bosch, bewandert in allen Höhenlagen der Literatur, konzentrierte sich weiterhin auf literarische Zeugnisse, die kaum Zugang zum bürgerlichen Bildungskanon fanden. Er spürte Unbekanntes auf, Verdrängtes und Vergessenes. Er wandte sich ohne jeglichen Anflug von Herablassung der vermeintlich illiteraten Arbeiterklasse zu und entdeckte nicht nur lebendige Schilderungen ihrer Lage, sondern auch ethisch fundierte gesellschaftliche Entwürfe. Die gleiche Perspektive – Achtsamkeit auf Vergessenes – konfrontierte ihn mit jüdischen Literaten, mit Dichterinnen und Dichtern, die ins Exil geflüchtet waren, und mit denen, die sich zu Recht auf die oft missbrauchte Formel der Inneren Migration berufen konnten.

Gleichzeitig und oft in direkter Verbindung ging es ihm darum, literarische Tradition und literarisches Leben seiner Heimatregion rund um den Bodensee zur Geltung zu bringen und dazu auch einen eigenen poetischen Beitrag zu leisten. Er publizierte vier schmale Bände mit Mundartgedichten, Beispiele der neuen Dialektdichtung, die nicht mehr auf niedliche Idyllisierung oder grobschlächtige Witze setzte; aber er stellte dagegen nicht Ironie, sondern suchte das traditionelle Vergnügen an der Mundartliteratur »mit den eigentlichen Qualitäten der Mundart, ihrer Erkenntnisfunktion zu verbinden«. Er hielt den Dialekt auch nicht für ein ganz beliebig einsetzbares Medium der Literatur. Der 1983 erschienene Band mit dem sprechenden Titel Wa sollet au d Leit denke trägt den Untertitel »Letzte alemannische Gedichte« – Manfred Bosch nahm Abschied von der Mundartliteratur, die er vier Jahre vorher auch in einem historischen Überblick über sechs Jahrhunderte vorgestellt hatte. Ohne die politische Stellungnahme durch eigene Streitschriften und literarische Wiederentdeckungen aufzugeben, bemühte er sich nun noch stärker um die literarische Szene seiner Gegenwart und das literarische Profil seiner Heimatregion. Das eindrucksvollste Ergebnis ist der meisterliche Essayband Bohème am Bodensee, der »Literarisches Leben am See von 1900 bis 1950« vorführt. Aber dazu gehörte auch die Arbeit an der Zeitschrift Allmende, von deren Gründung ich eigentlich erzählen will.

Es muss im Jahr 1980 gewesen sein, da saßen wir in Nußdorf im Haus Walser am Kaffeetisch und diskutierten die Pläne für eine neue Zeitschrift. Wer die Idee dazu hatte, weiß ich nicht mehr. Vielleicht war es Manfred Bosch, vielleicht auch Martin Walser, der den Plan jedenfalls leidenschaftlich zu seiner Sache machte. Er übersprang die keineswegs aus der Luft gegriffene, aber allzu selbstsichere Kritik an allem, das als heimatlich kritisiert wurde, betrachtete vielmehr die Bezeichnung »Heimatschriftsteller« als Auszeichnung und Ehrentitel, und die heimatliche Prägung der Literatur war auch ein für die neue Zeitschrift vorgesehenes Auswahlkriterium – neben der poetischen Qualität.

Wer, in ausgewogener geografischer Verteilung, als Herausgeber angesprochen werden sollte, war schnell entschieden. Über die Aufnahme vielfältiger literarischer Stilformen und Inhalte bestand Einigkeit, ebenso über die dominierende soziale und politische Ausrichtung, die bereits einen kräftigen ökologischen Einschlag hatte – Walsers Charakterisierung antiquierter Heimatdichter, sie trügen »grüne Bärte ums Bewusstsein«, war schon nicht mehr ganz angemessen. Meine Erinnerung (immerhin über eine Strecke von mehr als dreißig Jahren weg) mag zuspitzen und übertreiben; aber ich meine, wir hätten stundenlang, wirklich »Stunden lang«, nach einem wirkungsvollen Titel für die Zeitschrift gesucht. Es gab noch kein dienstbares Netz, aber viel Sachverstand und literarische Umsicht, sodass mancher hübsche Vorschlag als Plagiat einer bereits existierenden Veröffentlichung nachgewiesen werden konnte. Eine mundartliche Fassung des Titels hätte zwar im näheren Umkreis Gemeinsamkeit signalisiert, wäre aber in anderen Regionen kaum als aufschließende Verfremdung betrachtet worden. Die Debatte zog sich hin. Frau Käthe brachte Kaffee und Kuchen, in meiner lückenhaften Erinnerung Zwetschgenkuchen, aber einen aussichtsreichen Titelvorschlag hatte auch sie nicht.

Einiges sprach dafür, ohne weiteres Sprachbild von »einer alemannischen Zeitschrift« zu sprechen; was später zum Untertitel wurde, hatte ja viel für sich: Das Alemannische verband die benachbarten Regionen, das Elsass und Teile der Schweiz, Vorarlberg und Liechtenstein; da es sich nicht um eine Staatsbezeichnung handelte, gab es keine starre Grenzziehung, der literarische Aktionsraum blieb offen. Sogar gegen das Schwäbische hin, das ja sprachlich gesehen ein Teil des Alemannischen ist, was die Schwaben allerdings nicht wissen und die Alemannen nicht wissen wollen. Aber gerade der starke Akzent auf der Sprache machte diese Titelgebung fragwürdig – wir suchten weiter nach einer überzeugenden Überschrift.

Ich verabschiedete mich als Erster, weil ich die längste Heimfahrt hatte. Zwei Vorschläge waren zu diesem Zeitpunkt noch im Rennen: »Steinbruch« und »Trester«. In beiden Fällen handelte es sich um die Distanzierung von rein belletristischen Ansprüchen, um Hinweise auf Unterschätztes: Der Steinbruch liefert ja doch brauchbares, handfestes Material und bietet zudem die Chance überraschender Entdeckungen, und aus Trester, dem Rückstand in der Weinpresse, lässt sich ein solider Haustrunk gewinnen. Aber drängte sich nicht doch die Assoziation des Banalen und Beliebigen auf? Nach der vergeblichen Diskussion, an der ich beteiligt war, rechnete ich mit einer langen Durststrecke und erneuten Debatten. Aber schon am nächsten Morgen wurde ich telefonisch informiert über das schließlich doch noch gefundene Ergebnis: Allmende. Erneute Gedächtnislücke: Ich weiß nicht mehr, wer den Einfall hatte. Vermutlich Martin Walser. Oder war es Manfred Bosch? Vielleicht war es auch … aber es spielt eigentlich keine große Rolle, denn diese Benennung war so selbstverständlich, als wäre sie bei allen Beteiligten schon im Unterbewusstsein präsent gewesen und plötzlich ins Bewusstsein gerufen worden.

Ein schöner Titel. Literatur als Gemeingut, zugänglich ohne Bildungsnachweis, nichts Überflüssiges und nicht nur Verzierung, sondern notwendig. Und der Name wies, ohne strikte Abgrenzung, ins Oberdeutsche mit Akzent auf dem Alemannischen. Über zwanzig Jahre lang bestimmte dies den Inhalt der Zeitschrift. Und über zwanzig Jahre liefen die Fäden bei Manfred Bosch zusammen, dem von Anfang an die Redaktion übertragen war. Gewiss haben auch die Herausgeber einen wichtigen Beitrag geleistet, mit eigenen Texten und mit der Ausschau nach passender Literatur und ihrer Einwerbung; und Matthias Spranger, auch er ein Schaffer, der sich zuerst an der Redaktion beteiligte, nutzte den Überblick über alemannische Literatur, den er durch seine Rundfunkarbeit hatte, für die Bestückung der Zeitschrift mit wichtigen Neuentdeckungen. Aber er wird nicht protestieren gegen die Feststellung, dass die Hauptlast bei Manfred lag, der die Allmende zu seiner Aufgabe machte.

Die unermüdliche Energie und Zähigkeit, die er hier bewies, waren charakteristisch für alle Aufgaben, die er übernahm. Seine Beteiligung an dem umfassenden literaturgeschichtlichen »Schwabenspiegel« erschöpfte sich nicht in den weitgespannten editorischen und redaktionellen Tätigkeiten, sondern führte auch zu einer ganzen Reihe eigener Beiträge, und nebenher entstanden – seine Literaturliste zeigt es – weitere Aufsätze und Bücher. Das Wort »nebenher« zielt nur auf die Annäherung an Gleichzeitigkeit, es passt nicht zu Manfred Bosch. Was er in die Hand nimmt, verfolgt er grundsätzlich mit vollem Einsatz und ganzer Kraft. Wenn er einen Roman schriebe – doch lassen wir das, es ist unwahrscheinlich, dass er dazu kommt. Aber er hat sich mit den Problemen des Autobiografischen abgegeben, und seine Funktionen und Tätigkeiten haben ihn mit vielen interessanten Literaten zusammengebracht. Vielleicht kommt einmal ein Buch heraus, in dem er von diesen Begegnungen erzählt. Uf den Dag wart i …

 

Vorabdruck aus der anlässlich seines 70. Geburtstags erscheinenden »Freundschaftsgabe« Manfred Bosch – Literarischer Sekretär der Region, herausgegeben von Siegmund Kopitzki und Inga Pohlmann, mit freundlicher Erlaubnis des Südverlags Konstanz.

Denselben Titel trägt die Ausstellung der Literarischen Gesellschaft FORUM ALLMENDE über Manfred Bosch, die vom 10. September (Vernissage um 11 Uhr) bis 12. November im Hesse Museum Gaienhofen zu sehen sein wird. Dort findet am 15. Oktober um 11 Uhr eine Lesung »Der andere Bosch« statt; die Buchvorstellung ist am 7. September in der Zimmerbühne (St. Johanngasse 2) in Konstanz.

 

Hermann Bausinger, geboren 1926, war bis zu seiner Emeritierung 1992 Leiter des Ludwig-Uhland-Instituts für Empirische Kulturwissenschaft in Tübingen. Zahlreiche Publikationen zur historischen und gegenwärtigen Alltagskultur, zur Sprachsoziologie, Erzählforschung und Landeskunde, zuletzt erschien Eine Schwäbische Literaturgeschichte, Klöpfer & Meyer, 2016.

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