Porträt: »Weh mir« – Nicolas Borns erste »Hälfte des Lebens« Zum 80. Geburtstag des früh verstorbenen Dichters (1937 – 1979)

Von Axel Kahrs

Nein, der Satz »Wen die Götter lieben, den lassen sie jung sterben« gilt nicht für Nicolas Born, wie auch nicht für Leidensgenossen vor ihm, nicht für Paul Fleming, Novalis, Georg Büchner, Wilhelm Hauff oder Wolfgang Borchert. Als Born 1979 mit 41 Jahren, »in der Hälfte des Lebens«, einem Krebsleiden erlag, empfanden seine Freunde und Kollegen tiefen Schmerz. »Wie Camus wurde Born auf einer Höhe seines Schaffens aus dem Leben gerissen …, welche Bitternis für ihn, den Kampf, die schriftstellerische Arbeit gerade jetzt aufgeben zu müssen«, klagte sein Verleger Heinrich-Maria Ledig-Rowohlt und Borns Wegbegleiter Günter Grass wünschte sich: »Man möchte seine Rückkehr einklagen und dem Tod, diesem Macher, die Fälschung nachweisen. Er soll wieder da sein, mehr geben, alles.« Der leise Anklang an Benns Gedichtzeile »Du musst dir alles geben, Götter geben dir nicht« führt hin zu Borns Lebensbahn, zu seinem Wirken, seinem Werk.

Erste Bilder vom Dreck

Nicolas Borns Weg hin zu einem der bedeutendsten Lyriker und Romanciers der bundesdeutschen Nachkriegsliteratur ist keine sich harmonisch entfaltende Entwicklung, sondern ein unablässiges Staccato der Ab- und Aufbrüche in privater und beruflicher Hinsicht. Er war ein Kind des Ruhrgebietes, 1937 in Duisburg geboren, geprägt von Krieg und elender Nachkriegszeit, schulisch kaum gefördert, in eine Lehre als Chemigraph gesteckt. Später resümiert er: »Eines Tages bin ich aus dem Ruhrgebiet getürmt, obwohl ich mich sicher vom Dreck und von den Bildern vom Dreck nicht lösen konnte, jedenfalls bin ich nie richtig sauber geworden und das Ruhrgebiet holte mich immer wieder. Es geht zwar nicht mehr unter die Haut, aber unter die Fingernägel …« Borns berufliche Erfahrungen im Pott werden später von seinen Freunden wie Hermann Peter Piwitt und Peter Rühmkorf, die »nur« studiert hatten, immer wieder als besondere Qualifikation hervorgehoben.

Born selbst fühlte sich vor manchen Theoriegespinsten der Studentenbewegung durch eigene Erfahrung gefeit. So schrieb er an Piwitt: »Ich bin so unentschieden, man kann ja leicht für die Revolution sein und leicht entsprechende Sachen sagen, menschlich und künstlerisch, aber ehrlich gesagt, das ist ja gar nichts.« Sein Roman Die erdabgewandte Seite der Geschichte (1976) und einige seiner politischen Gedichte aus der Zeit spiegeln diese Einstellung: »Reiche haben mich gespeist / als ich besoffen vor Elend / in die Bungalows einfiel. […] Arme aber haben mich geschunden / Arme haben mich betrogen und vermurkst«.

Parolen und Paraphrasen

Die frühe Suche nach weiten Horizonten führt zu eigenen Schreibversuchen und ersten Kontakten mit Schriftstellern wie Ernst Meister. Der vermittelt ihn zum Literarischen Colloquium Berlin, wo er zusammen mit jungen Talenten wie Hans Christoph Buch, Hubert Fichte, Rolf Haufs, F. C. Delius, Jürgen Theobaldy und Gert Loschütz Karriere macht, begleitet und gefördert von Walter Höllerer, Peter Rühmkorf, Hans Magnus Enzensberger und Helmut Heißenbüttel.

Der Aufbruch aus dem Ruhrgebiet führt ihn so – nach der Trennung von seiner ersten Frau – ins Zentrum des Kalten Krieges und zugleich der gärenden Studentenbewegung. Als Vertreter der außerparlamentarischen Opposition verlässt er die SPD und das »Wahlkontor« für Willy Brandt, seine Texte wie die »BERLINER PARA-PHRASEN« werden tagespolitischer, aggressiver, sind aber nicht immer von zeitloser Haltbarkeit: »PHALL-EX 66. Sagen wir mal Lübeck ist gefallen / nur keine Panik sie bomben den Feind zurück / die Stadt ist dann zwar tot doch demokratisch«.

Zwischenschritte

Die Gruppe 47 lädt ihn nach Schweden und 1967 zur letzten Tagung ins bayerische Waischenfeld  ein – aber mehr und mehr richtet sich Borns Ungeduld auch gegen das eigene, unstete Leben. Zusammen mit Irmgard Masuhr, seiner zweiten Frau, geht Born ins schwäbische Nürtingen, bewusst Abschied nehmend von der Berliner Szene: »Bei euch und beim Bier zu altern ist übel.« Irmgard Born arbeitet als Internistin im Krankenhaus Kirchheim unter Teck, Born schreibt, fährt zu Lesungen, hält Kontakt zu anderen Autoren. Doch die Idylle trügt, die erste »Flucht aufs Land« scheitert. Die anfängliche Prophezeiung Borns: »Die Leute hier sind nett zu uns, kennen uns eben noch nicht. Das wird sich ändern, beides«, bestätigt sich. Borns Tochter Katharina hat im Marbacher SPUREN-Heft die allmähliche Entfremdung und Bedrückung nachgezeichnet, die dann fluchtartig in einen Amerika-Aufenthalt Borns mündet, dem ein Villa-Massimo-Stipendium in Rom folgt.

Fallhöhe

Mittlerweile ist Born ein wichtiger Autor, Herausgeber und Teilhaber am Literaturbetrieb in Deutschland. Als ob die Fallhöhe zu seinem frühen Tod noch gesteigert werden sollte, füllt sich das letzte Jahrzehnt seines Lebens mit neuen Perspektiven: Gastdozenturen wie die in Essen, die Herausgeberschaft des Literaturmagazins bei Rowohlt, Jury-Mitgliedschaften wie beim Petrarca-Preis, Aufnahme in den PEN sowie die Mainzer und Darmstädter Akademie, Stadtschreiber von Bergen-Enkheim und mehrere Literaturpreise.

Arnold Stadler hat jüngst in seinem Essay »Tage mit Nicolas Born« an die Feier zur Verleihung des Rilke-Preises im Jahr 1979 erinnert und Born, in deutlicher Abgrenzung zu dessen Engagement als zeitgenössischer Autor in Berlin, einen Dichter im klassischen Sinne genannt. Von diesem gab es nun die großen Lyrikbände Wo mir der Kopf steht und Das Auge des Entdeckers, mit Oton und Iton ein verspieltes Kinderbuch und – nach der Erdabgewandten Seite der Geschichte – den letzten, dem Tod abgerungenen Roman Die Fälschung. Posthum erschienen ergänzend in der Welt der Maschine die Reden und Aufsätze, mit Täterskizzen die Erzählungen. Katharina Born hat die gesammelten Gedichte und Briefe des Vaters als Teil der Gesamtausgabe herausgegeben.

Unter Freunden

Borns steile Karriere wird von einem erneuten Ortswechsel begleitet, der sein Werk nachhaltig prägt und sein Leben bestimmt. Seit dem Beginn der siebziger Jahre erfährt und erkundet Born die Landschaft des hannoverschen Wendlands, eines stillen Landstrichs entlang der Elbe südöstlich von Lüneburg, damals Zonengrenzregion zur DDR jenseits des Stromes. Die natürliche Unberührtheit der Flussauen und die beschauliche Intaktheit der Dörfer in der dünn besiedelten Region bewegen den ruhrgebiets- und berlingeschädigten Städter zum zweiten Mal zur »Flucht aufs Land« – diesmal mit Erfolg; es wird eine späte Heimat, kein Exil. Borns ziehen ins eigene Haus, umgeben von Freunden aus Berlin, die es ebenfalls hierher zieht. Die hier geschriebenen Texte füllten sich mit Landschaftszeichnungen und Naturskizzen, der empfindsame Idyllendichter Salomon Geßner wird zum Vorbild und Anreger Borns, als er sein Langgedicht »Ein paar Notizen aus dem Elbholz« schreibt: »Es gibt keine Achse, keinen Punkt, alles ist / schon geformt, alles ist da und zugleich / verschwunden, ganz gedankenstill« – »Kein Mensch könnte das in Unordnung halten / dieses klare Durcheinander des Wachsenden / übereinander Hergefallenen« – »Hier bin ich, wo die gestanzten Horizonte nicht sind«.

Und auch im Roman Die Fälschung spielt die unspektakuläre Ruhe der sich selbst überlassenen Landschaft eine Rolle als bewusstes Gegengewicht zur Erfahrungswelt des Bürgerkrieges im Libanon, in den die Hauptfigur Laschen verwickelt ist. Kai Hermann, STERN-Journalist und Nachbar Borns, diente als reale Vorlage. Erst 2017 hat er berichtet, wie ein Streit zwischen ihm und Born Ausgangspunkt der Romanhandlung war, in der Born die Verlogenheit so mancher Berichterstattung aufs Korn nimmt. Laschen sah sich »in den Sätzen sitzen und feixen, obszöne zweideutige Winke geben, sich hindurchwagen und lügen durch ein Lügengewebe, sich hindurchschlagen und hindurchbehaupten ...«. Volker Schlöndorff verfilmte das letzte Werk Borns ein Jahr nach dessen Tod mit Bruno Ganz und Hanna Schygulla.

»entsorgt«

Die Palette des Wirkens von Nicolas Born wird erst vollständig durch sein vielfältiges Engagement gegen eine atomare Mülldeponie in Gorleben, die bundesweit Aufsehen erregte. Born studierte die Pläne der geplanten Hochsicherheitstechnik, sein Entsetzen wuchs mit jeder neuen Erkenntnis über Jahrtausende währende Halbwertzeiten, radioaktiven Zerfall und tödliche Strahlendosen. Wie in einer Neuauflage seiner Berliner Jahre, aber jetzt mit immenser persönlicher Betroffenheit und großem Ernst, war Born ein prominenter, viel beachteter Vertreter des Protestes im Wendland. Seine Rede in Gorleben dokumentiert in ihrem wütenden Duktus früh die grundsätzliche Ablehnung des atomaren Spiels mit dem Feuer, lange vor Tschernobyl und Fukushima.

Das Gedicht »entsorgt« hebt die technische Problematik auf eine grundsätzlich anthroposophische Stufe der Betrachtung. Born besteht gegenüber dem zynischen Begriff »Nukleares Entsorgungszentrum« auf dem positiv besetzten Wort der »Sorge«, auf Vor-, Nach- und Fürsorge: »Das sorgende Schöne fehlt mir an Krypton und Jod 129. Mir fehlt die Zukunft der Zukunft. Mir fehlt sie.«

Borns visionäre Sicht, seine Vor-Ahnung einer durch und durch technisierten Welt macht ihn in seiner Prosa und seinen Gedichten auch heute noch aktuell und bedenkenswert. Wenn er über Menschen mit »winzigen Prozeßrechnungen in der hohlen Hand« schreibt, die »alleswissende Mutanten« seien, »Lebensstatisten, Abgänger. Am Tropf der Systeme«, dann genügt ein Blick in jede handydominierte Fußgängerzone, um ihm Recht zu geben – obwohl Born das Gerät völlig unbekannt war.

Er sprach viel von »Ahnung« und hat dieses schwebende Gefühl nicht abgetan wie die Wissenschaftler und Ökonomen: »Keine Ahnung, was sie in die Erde setzen / Ahnung nicht, nur Wissen«. Das ist auch heute noch eine brisante Deutung, eine Einladung zum Diskutieren, Streiten. Nicolas Born, nach dem inzwischen der niedersächsische Landesliteraturpreis benannt ist, bleibt unter uns, oder, mit den Worten Oscar Wildes: »Wen die Götter lieben, den lassen sie jung werden.«             

Zum Weiterlesen (Auswahl):

Gedichte. Hrsg. von Katharina Born, Wallstein Verlag, Göttingen 2004. 666 Seiten, 34 Euro

Briefe 1959 – 1979. Hrsg. von Katharina Born, Wallstein Verlag, Göttingen 2007. 632 Seiten, 34 Euro

Die Fälschung. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1984 ff (TB). 317 Seiten, 8,95 Euro

Katharina Born, Flucht aufs Land – Nicolas Borns Jahr in Nürtingen. Spuren-Heft 73, Marbach a. N., 2006. 16 Seiten, 18 Euro

Axel Kahrs (Hrsg.), Unter Freunden – Nicolas Born. Leben, Werk, Wirkung (mit den erwähnten Artikeln von Arnold Stadler und Kai Hermann). Wallstein Verlag, Göttingen 2017. 108 Seiten, 14,90 Euro

 

Axel Kahrs, Jahrgang 1950, war von 2000 bis 2017 Leiter der Nicolas Born-Stiftung (Lüchow) mit Sitz im Künstlerhof Schreyahn (Wendland). Herausgeber des Literarischen Führers Deutschland (zusammen mit Fred Oberhauser), lebt als Sachbuchautor, Literaturkritiker und Essayist in Lüchow.

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