Erkundungen in einer verletzten Gesellschaft – Beim Gastlandauftritt Georgiens auf der Frankfurter Buchmesse 2018 ist ein reiches Literaturland zu entdecken

Von Barbara Weidle

Ein Pantherkopf im Dreiviertelprofil auf Dunkelrot in hellblauem Rahmen. Die Ohren ragen keck über die Begrenzung heraus, eisblaue Augen schauen nach oben. Der Held im Pardelfell ist handschriftlich in das Titelfeld gesetzt, auch die Buchstaben sprengen den Rahmen, als bewege sich eine Geschichte aus fernen Zeiten direkt auf uns zu. Und genau so ist es. Tilman Spreckelsen und Kat Menschik haben das über 800 Jahre alte georgische Nationalepos von Schota Rustaweli (1172–1216), das auch unter dem Titel Der Recke im Tigerfell bekannt ist, nacherzählt. Einen Roman aus mehr als 1600 Vierzeilern. So kann man sich auf gut 200 Seiten mit den beiden berühmtesten Liebespaaren der georgischen Literatur, Tariel und Nestan Daredschan sowie Awtandil und Tinatin, vertraut machen. Mit den Heldentaten der Freunde und den starken Herrscherinnen, die schwere Bedingungen stellen für die Erfüllung ihrer Liebe. Der Roman entstand um 1200, zur Zeit der Regierung von Königin Tamar, als Georgien eine Blütezeit erlebte. Es ist ein Buch über bedingungslose Freundschaft, Tapferkeit, Mut, die Kraft der Liebe. Kat Menschik gelingt es mit elegant reduzierten Illustrationen, die Elemente der persischen Miniaturmalerei integrieren, die märchenhafte Welt des georgischen Mittelalters lebendig zu machen. Der Held im Pardelfell ist ein perfekter Einstieg in das Literaturland Georgien.

Rund 150 Bücher erscheinen jetzt auf Deutsch aus Anlass des Frankfurter Gastlandauftritts der ehemaligen sowjetischen Teilrepublik, die seit 1991 unabhängig ist. Die Gelegenheit, sich mit dem Land an der Schnittstelle zwischen Europa und Asien vertraut zu machen, ist auch dem Übersetzungsförderungsprogramm und der engagierten Arbeit des Georgian National Book Center unter Leitung von Medea Metreveli zu verdanken. Seit mehr als fünf Jahren bereitet Metreveli mit ihrem Team diesen Auftritt auf der Buchmesse vor und natürlich hat das auch handfeste politische Gründe: »Wir hoffen, dass diese Aktivitäten letztlich zur Integration Georgiens in Europa beitragen und das Bewusstsein für die georgische Kultur stärken«, sagte Mikheil Giorgadze, Minister für Kultur und Sport, kürzlich. Zur Erinnerung: Seit Ende März 2017 dürfen Georgier ohne Visum in die EU einreisen. Die Georgier fühlen sich als Europäer und verweisen gern auf ihr Christentum, auf Medea und das antike Kolchis, das im heutigen Westgeorgien liegt.

Otar Tschiladse (1933–2009) hat die Geschichte von Medea und dem Goldenen Vlies in seinem Roman Der Garten der Dariatschangi 1973 meisterhaft erzählt. Die Begegnung mit dem wohl bedeutendsten georgischen Autor aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ermöglicht die Übersetzung von Kristiane Lichtenfeld. Sie hat die schöne Prosa des Dichters und Romanciers in ein makelloses Deutsch übertragen. Otar Tschiladse hat im Gespräch mit der Übersetzerin einmal betont, dass »die erste, obgleich mythologische Erwähnung eines georgischen Staatswesens, einer georgischen Kultur« in der Argonautensage zu finden ist. Der Medea-Stoff macht etwa ein Drittel dieses großen Klassikers aus, der Fragen von Schuld, Sühne, Demütigung und Leidenschaft behandelt.

Tschabua Amiredschibi (1921–2013) führt mit Data Tutaschchia. Der edle Räuber vom Kaukasus in das Georgien des späten 19. Jahrhunderts. Der komplexe Roman, ebenfalls von Kristiane Lichtenfeld übersetzt, erzählt die Geschichte des Abragen Data Tutaschchia, eines hochmoralischen Freiheitskämpfers im Zarenreich, der sich außerhalb der Gesellschaft stellt, und seines Gegenspielers und Cousins Muschni Sarandia, eines hochgestellten Beamten der Gendarmerie. In diesen Text sind viele Fragen verwoben: philosophische und religiöse Überlegungen, Nachdenken über den menschlichen Charakter, die Frage nach dem Sinn, überhaupt in das Handeln der Menschen einzugreifen, das Recht auf Freiheit,  natürlich auch die Liebe. An einer Stelle im Buch holt Data Tutaschchia den Recken im Tigerfell aus seiner Satteltasche und versenkt sich in das Rustaweli-Epos. Damit ist eine Verbindung mit den vorbildlichen Helden des Mittelalters hergestellt.

Tschabua Amiredschibi, der 16 Jahre in der Verbannung in Sibirien lebte, wurde mit Data Tutaschchia sehr bekannt. Dass sein raffiniert gebauter Roman, der in einer Mischung aus Dostojewski, Thomas Mann und Georgien fasziniert und sehr fein die Atmosphäre im zaristisch geprägten Tbilissi (Tiflis) des ausgehenden 19. Jahrhunderts beschreibt, Anfang der 1970er Jahre überhaupt erscheinen konnte, obwohl es repressive politische Systeme kritisierte, lag an dem Einsatz von Eduard Schewardnadse.

Starke Frauen gibt es nicht nur in Rustawelis Epos und im Georgian National Book Center. Eine bedeutende, auch politische Figur der georgischen Kulturszene ist Naira Gelaschwili (Jahrgang 1947). In den frühen 1990er Jahren war sie Kulturberaterin von Eduard Schewardnadse. 1993 veröffentlichte die Germanistin auf Deutsch im Aufbau-Verlag Georgien – ein Paradies in Trümmern, eine wichtige Beschreibung der chaotischen Jahre des Bürgerkriegs in Georgien. 2000 gab sie die Anthologie Georgische Erzählungen heraus. Sie übersetzte Rainer Maria Rilke, Georg Trakl und Ingeborg Bachmann. Im Verbrecher Verlag sind zwei ihrer Bücher auf Deutsch erschienen: Der autobiographische Roman Ich bin sie, in dem es um die erste Liebe eines jungen Mädchens geht, das um dieser Liebe willen sogar Deutsch lernt, die Sprache des Angebeteten. Und die Novelle Ich fahre nach Madrid. Hier beschreibt Naira Gelaschwili einen Mann, der aus dem sowjetischen Alltag ausbricht und sich in die Klinik eines befreundeten Chefarzts zurückzieht, dabei aber immer von einer Reise nach Madrid phantasiert und von einer Existenz in Freiheit. Als der Text in den frühen 1980er Jahren nach längerem Hin und Her und der Klassifizierung als »antisowjetische Erzählung« in der Zeitschrift Ziskari erscheinen konnte, waren die 80 000 Exemplare der ersten Auflage schnell vergriffen.

Siebzig Jahre Sowjetrepublik, danach Bürgerkrieg und wirtschaftlicher Zusammenbruch, haben ihre Spuren in der georgischen Gesellschaft hinterlassen. Fachleute sprechen von einer traumatisierten Gesellschaft, in der die Menschen viel Gewalt erfahren haben, die Männer arbeitslos wurden und die Frauen das Heft in die Hand nahmen. In der immer noch patriarchalen Gesellschaft gibt es viele Probleme: Gewalt gegen Frauen, Geringschätzung geschiedener Frauen, Missbrauch, Homophobie. Der Einfluss der sehr konservativen Georgisch- Orthodoxen Kirche ist groß. Diese verletzte Gesellschaft spiegelt die jüngere georgische Literatur vielfältig und eindringlich.

Das Birnenfeld ist ein Ort, an dem junge Mädchen, Insassinnen eines Kinderheims für »Debile«, von den Jungen vergewaltigt werden. Die Autorin und Regisseurin

Nana Ekvtimischwili (Jahrgang 1978), in Deutschland bekannt durch ihre Filme »Die langen, hellen Tage« und »Meine glückliche Familie«, hat als Kind in der Nähe eines solchen Heimes gelebt. Ihre präzisen Beobachtungen und Recherchen sind nun in den Roman Das Birnenfeld eingeflossen. Das auch sprachlich hervorragende Buch erzählt von Missbrauch (der Lehrer an ihren minderjährigen Schülerinnen), Verwahrlosung, Prostitution, Verlassenheit. Keines dieser Kinder hat eine Chance, niemand unterstützt sie. Die Autorin beschreibt die dennoch erstaunliche Vitalität der Kinder und Jugendlichen um die Hauptfigur Lela, selbst Opfer von Missbrauch und Gewalt. Lelas Fürsorge für den 9jährigen Irakli, der sich gegen eine geplante Adoption in den USA entscheidet, ist nüchtern und zugleich anrührend beschrieben. Es ist die traurige und dunkle Seite der sowjetischen und postsowjetischen Gesellschaft, die Nana Ekvtimischwili heraufbeschwört, eine Welt, in der es, wie sie sagt, »kein humanes Verständnis für den Umgang mit den Schwachen gab«.

Wenn es nur Licht gäbe, bevor es dunkel wird heißt das Debüt von Iunona Guruli (Jahrgang 1978), auch Übersetzerin zweier Romane von Aka Morchiladze; ihr Erzählband wurde nach seinem Erscheinen in Georgien 2016 mit dem Literaturpreis Saba ausgezeichnet und kommt nun auf Deutsch. Es sind zarte Geschichten, die unter die Haut gehen, Minidramen, die jedes für sich einen Roman enthalten. Nüchtern und gleichzeitig kunstvoll beschreibt die Autorin Depression, Einsamkeit, Vergewaltigung, Drogensucht, Migration, das Ausgeliefertsein der Gewalt, den gesellschaftlichen Verhältnissen, der körperlichen Macht der Männer, die Brutalität von Klatsch und Tratsch in einem georgischen Dorf. Oft schleicht sich das Wissen um den schlechten Ausgang der Geschichte schon in den ersten Sätzen ein, doch immer gibt es auch Zeichen von Kraft und Energie, den Kampf für das eigene Leben aufzunehmen. Es ist diese Vitalität, die viele Georgierinnen tatsächlich ausstrahlen.

Davit Gabunia (Jahrgang 1982) ist Dramaturg, Übersetzer, Drehbuch- und Theaterautor. Farben der Nacht ist ein beachtenswertes Romandebüt. Gabunia erzählt die Geschichte eines modernen Ehepaares in Tbilissi: Tina ernährt die Familie, Sura ist arbeitslos, kümmert sich um die Kinder. Aus Langeweile beobachtet er – man fühlt sich an Hitchcocks »Fenster zum Hof« erinnert – das Leben eines Homosexuellen in seiner Nachbarschaft, dessen sexuellen Eskapaden und Abenteuer. Er kommentiert das Geschehen für sich mit den gängigen Vorurteilen. Doch nach dem gewaltsamen Tod des Homosexuellen durch seinen Liebhaber, einen hohen Beamten, verselbständigt sich die Geschichte. Das Thema Homosexualität in einem Roman zur Sprache zu bringen ist in Georgien mutig. Von ihrem Mann unbemerkt, durchlebt Tina parallel eine leidenschaftliche Liebesaffäre. Wie Davit Gabunia das Verliebtsein beschreibt, die Verzweiflung und die Zukunftslosigkeit dieser Liebe, das ist großartig.

 

Zum Weiterlesen:

Tilman Spreckelsen / Kat Menschik (Illustrationen), Der Held im Pardelfell. Eine georgische Sage von Schota Rustaweli. Verlag Galiani , Berlin 2018. 208 Seiten, 25 Euro

Otar Tschiladse, Der Garten der Dariatschangi. Aus dem Georgischen von Kristiane Lichtenfeld. Matthes & Seitz, Berlin 2018. 663 Seiten, 39,90 Euro

Tschabua Amiredschibi, Data Tutaschchia, der edle Räuber vom Kaukasus. Aus dem Georgischen von Kristiane Lichtenfeld. Kröner, Stuttgart 2018. 696 Seiten, 29,90 Euro

Naira Gelaschwili, Ich bin sie. Aus dem Georgischen von Lia Wittek. 176 Seiten, 22 Euro

Ich fahre nach Madrid. Aus dem Georgischen von Lia Wittek und Mariam Baramidse. 96 Seiten, 16 Euro

Beide: Verbrecher Verlag, Berlin 2018

Nana Ekvtimischwili, Das Birnenfeld. Aus dem Georgischen von Ekaterine Teti und Julia Dengg, Suhrkamp, Berlin 2018. 221 Seiten, 16,95 Euro

Iunona Guruli, Wenn es nur Licht gäbe, bevor es dunkel wird. btb, München 2018. 224 Seiten, 20 Euro

Davit Gabunia, Farben der Nacht. Aus dem Georgischen von Rachel Gratzfeld. Rowohlt, Reinbek 2018. 192 Seiten, 20 Euro

 

Barbara Weidle führt gemeinsam mit Stefan Weidle den Bonner Weidle Verlag. In den letzten Jahren bereiste sie zu Recherchezwecken mehrfach Georgien. Zum Gastland erschienen im Weidle Verlag Romane von Zurab Karumidze (Dagny oder Ein Fest der Liebe) und von Aka Morchiladze (Reise nach Karabach und Der Filmvorführer). 

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