Vorhang auf für Georgien – Einige Bemerkungen zu Geschichte, Kultur und Politik

Von Tilmann Eberhardt

Die »Generalproben« für den Gastlandauftritt Georgiens in Frankfurt in diesem Herbst waren beachtlich. Bereits auf der Leipziger Buchmesse präsentierten 22 georgische Autorinnen und Autoren ihre neu ins Deutsche übersetzten Bücher bei circa 40 Veranstaltungen und zahlreiche Lesungen auf Literaturfestivals wie der Lit.COLOGNE folgten.

Für eine Kulturnation, deren Literatur nicht im Rampenlicht der Feuilletons, im Fokus von Literaturscouts und Lektoren steht, ist dies eine gänzlich andere Ausgangssituation als etwa bei Frankreich, dem Gastland des Vorjahres. Für die deutschen Verlage und Leser ist es sowohl Herausforderung als auch Chance.

Zentrum Tiflis – Rustaweli-Boulevard: Schon am frühen Morgen herrscht reger Verkehr auf der Prachtstraße der georgischen Hauptstadt. Antiquare legen ihre Bücher auf Mauersimsen und selbst gezimmerten Holzständen aus. Der Vorhang, für den Westen damals ein eiserner, war zumindest für die Leser der DDR weniger dicht. Zwischen russischen Ausgaben von Tolstoi, Puschkin und Dostojewski und Bildbänden über die Sowjetunion, alten russischen und neueren englischen und deutschen Sprachlehrbüchern findet sich immer wieder eine Anthologie georgischer Gedichte oder georgischer Erzählungen, die in den 70er oder 80er Jahren in DDR-Verlagen wie Rütten & Loening oder Volk und Welt erschienen.

Die DDR-Autoren Adolf Endler und Rainer Kirsch reisten 1969 in die Sowjetrepublik Georgien mit dem Auftrag, eine Lyrikanthologie zusammenzustellen, die 1971 unter dem Titel Georgische Poesie aus acht Jahrhunderten erschien. Eine kleine Auswahl dieser Gedichte liegt zusammen mit Endlers 1976 erschienenem Reisebericht in einer Neuausgabe bei Wallstein vor: Kleiner kaukasischer Diwan – Von Georgien erzählen. Die Landschaftsbeschreibungen dieser Reiseprosa und ihre Rückbezüge auf antike Mythen verbinden assoziations- und kenntnisreich Beglückung und Irritation des Reisenden mit genauen Beobachtungen.

Deutsch-georgische Beziehungen mit einer Blüte an Reiseberichten gab es bereits im 19. Jahrhundert: Die Sprachvielfalt der Kaukasusvölker reizte die Sprachforscher, frühe Alpinisten wie Gottfried Merzbacher zog das Kaukasusgebirge an. Handfeste Interessen hatte die Firma Siemens und Halske, die von 1858 bis 1866 über das Netz der Telegrafenverbindungen im Kaukasus verfügte. Auszüge älterer Reiseberichte durch Georgien sind neben Texten russischer Autoren wie Alexander Puschkin oder Ossip Mandelstam und georgischen Stimmen in einer Anthologie der anregenden Reihe »Europa erlesen« des Wieser-Verlags zu finden. Georgien – eine literarische Einladung, erschienen in der rotleinenen Salto-Reihe bei Wagenbach, legt den Schwerpunkt auf die Literatur und bringt Texte von Dato Turaschwili, Iwa Pesuaschwili, Zurab Karumidze, Zaza Burchuladze und anderen. Die junge Generation der Autorinnen kommt in ihrer lebendigen Vielfalt in dem Lesebuch Bittere Bonbons der Edition fünf zu Wort.

Auf der Ankunftstafel des Tifliser Flughafens leuchten die Namen von Istanbul, Moskau, Teheran, Baku, Tel Aviv und Batumi. Noch vor Kurzem lag die georgische Hauptstadt am Rande Europas, heute ist sie ein Zentrum. Ihre Position am Kreuzungspunkt der Nord-Süd-Verbindung über den Kaukasus mit der Ost-West-Route vom Kaspischen ans Schwarze Meer prägte schon ihre historische Rolle.

Eben sind zwei Maschinen aus Teheran gelandet, für iranische Touristen besteht nun Visafreiheit. An der Gepäckausgabe haben fast alle Frauen die Kopftücher abgelegt. In meinem kleinen Hotel im armenischen Viertel komme ich mit Israelis auf Städtetrip ins Gespräch, etwas später in einem Café mit Iranern, die bei der Weinprobe sind. Hier könnten sie miteinander in Kontakt treten – so wie es in der Altstadt von Tiflis auch nur weniger Schritte bedarf, um eine armenische, eine römisch-katholische und zahlreiche georgisch-orthodoxe Kirchen, eine Moschee (mit sunnitischer und schiitischer Gebetsnische) sowie eine sephardische oder eine aschkenasische Synagoge zu besuchen.

Dass diese Vielfalt gleichermaßen Reichtum bedeutet und Konfliktpotential birgt, zeigt der Band Der Kaukasus – Geschichte, Kultur, Politik. Er behandelt die Geschichte Georgiens und der Kaukasusländer im 20. Jahrhundert sowie die Konflikte des 21. Jahrhunderts innerhalb und um Abchasien, Südossetien, Tschetschenien und Bergkarabach. Nation und Volk, Religions- und Staatsgrenzen waren selten eins. Die erste georgische Republik, gegründet nach der Oktoberrevolution, hatte nur kurz Bestand: Sie dauerte von 1918 bis 1921. Die folgenden sowjetischen Jahre brachten Industrialisierung, Orientierung der Landwirtschaft am Export von Südfrüchten und die touristische Entwicklung als Sehnsuchtsland nicht zuletzt der sowjetischen Nomenklatura. Die Bedrohung durch die Nationalsozialisten, die zu den reichen Ölvorkommen im Kaspischen Meer vorstoßen wollten, wurde im »Großen Vaterländischen Krieg« abgewehrt; inzwischen heißt er in Georgien wie im Westen schlicht »Zweiter Weltkrieg«. Das riesige Gebilde der Sowjetunion konnte aufgrund der Interessen des Machtzentrums Moskau in verschiedenen Phasen nur mit Unterdrückung und dem Rezept des »divide et impera« zusammengehalten werden. Erst die Unabhängigkeitsbewegung in den 80er Jahren leitete sein Ende ein.

Das Buch Georgien – ein Länderporträt beinhaltet gleichfalls einen kompakten Abriss der georgischen Geschichte. In Kapiteln wie »Lebensart und Mentalität« und in seinen Porträts der Hauptstadt und der Regionen zeichnet der Autor Dieter Boden ein lebendiges länderkundliches Bild. Dabei profitiert er von vielen Begegnungen während seiner Tätigkeit in diplomatischen Vertretungen im Kaukasus und als Leiter der OSZE-Mission in Georgien zwischen 1999 und 2002.

In der Antike waren es Geschichtsschreiber wie Herodot, die das auf dem Gebiet des heutigen Westgeorgien liegende Königreich Kolchis erwähnten, oder Homer, der die Argonautensage, den Mythos von Medea oder Prometheus hier ansiedelt. Das Interesse an diesem an Edelmetallen reichen Land mit seiner langen Weinbautradition am Rande des griechischen Reiches war schon früh groß.

Die Einführung der georgischen Schrift mit ihren 33 Buchstaben vollzieht sich ungefähr im 3. Jahrhundert v. Chr. Nach der Einführung des Christentums als Staatsreligion im 4. Jahrhundert ermöglicht sie neben der mündlichen Überlieferungstradition ein reiches hagiographisches Schrifttum, das in zahlreichen Klöstern gepflegt wird.

Das weltliche Schrifttum entwickelt sich mit dem Aufstieg des Rittertums in der „Goldenen Epoche“ im 12. bis 13. Jh

ahrhundert. Das von Schota Rustaweli (1172 – 1216) im Auftrag der legendären Königin Tamar geschriebene Nationalepos ist in Vers- oder Prosaform mehrfach auf Deutsch verlegt worden. Nun wird es von Tilman Spreckelsen unter dem Titel Der Held im Pardelfell im Galiani-Verlag neu nacherzählt. Das Manuskript dieses Epos von ritterlicher Liebe, Tapferkeit und Edelmut wurde im Jahr 2013 zum Weltdokumentenerbe erklärt.

Mit dem Einfall der Mongolen wird Georgien tributpflichtig und zerfällt in mehrere Königreiche. Als Perser und Osmanen ab 1463 das Land erobern und 1555 in zwei Einflusssphären teilen, findet zumindest die persische Poesie mit ihrer Bildhaftigkeit Niederschlag in der Literatur.

1783 wird Russland Schutzmacht von Kartlien-Kachetien und annektiert es 1801. Erstmals sind die Eroberer orthodoxe Christen.

Im Zeitalter der Romantik gewinnt Georgien, verknüpft mit der nationalen Erweckungsbewegung, Anschluss an die Weltliteratur – etwa in der Poesie Nikolos Barataschwilis, die in der Übersetzung von Rainer Kirsch zweisprachig vorliegt. Die Hinwendung zum Realismus wird bald von einer jungen Dichtergeneration abgelöst, die von Symbolismus, Dada und Futurismus schwärmt. Von den Autoren, die sich unter sowjetischer Herrschaft für die Eigenständigkeit Georgiens einsetzten, widmen sich Matthes & Seitz dem Werk von Otar Tschiladse und der Verbrecher Verlag dem von Naira Gelaschwili, die 1993 das Zentrum für kulturellen Austausch »Das Kaukasische Haus« gründete.

Wenn Nino Haratischwili und der produktive und vielseitige Aka Morschiladze als Gastredner die Buchmesse eröffnen, gibt es viel zu entdecken: eine reiche, oft politische Literatur und eine junge, weltläufige Generation auf der Suche nach literarischer Orientierung in einer globalisierten Welt. Vorhang auf, Handy aus, Bühne frei, Auftritt: Georgien.

 

Zum Weiterlesen:

Adolf Endler, Kleiner kaukasischer Diwan. Von Georgien erzählen. Hrsg. von Brigitte Schreier-Endler. Wallstein, Göttingen 2018. 276 Seiten, 22 Euro

Fried Nielsen (Hrsg.), Georgien. Wieser, Klagenfurt 2018. Ca. 256 Seiten, 14,95 Euro

Lena Luczak und Manfred Heinfeldner (Hrsg.), Georgien – Eine literarische Einladung. Wagenbach, Berlin 2018. 144 Seiten, 18 Euro

Rachel Gratzfeld, Bittere Bonbons – Georgische Geschichten. Edition Fünf, Gräfelfing 2018. 256 Seiten, 22 Euro

Marie-Carin von Gumppenberg und Udo Steinbach (Hrsg.), Der Kaukasus – Geschichte, Kultur, Politik. C. H. Beck, München 2018. 301 Seiten, 16,95 Euro

Dieter Boden, Georgien – Ein Länderporträt. Ch. Links, Berlin 2018. 200 Seiten, 18 Euro

Nikolos Barataschwili, Gedanken am Fluss Mtkvari. Gedichte. Zweisprachige Ausgabe, übersetzt von Rainer Kirsch. Arco Verlag, Wuppertal 2017. 160 Seiten, 16 Euro

Maka Elbakidse, Eine kurze Einführung in die georgische Literatur. Pop Verlag, Ludwigsburg 2016. 182 Seiten, 18,20 Euro

 

Zum Weiterklicken:

http://book.gov.ge/en/

https://www.georgia-insight.eu/

http://caucasianhouse.ge/en/

 

Tilmann Eberhardt ist Buchhändler und Verlagsvertreter. Er bereiste zahlreiche Länder Osteuropas, zuletzt die Ukraine und Georgien.

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