Lebenswerk, Hauptwerk, Meisterwerk – Zu Thomas Manns Tetralogie Joseph und seine Brüder in der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe

Von Fritz Endemann

Am Anfang nur Staunen – welch ein Werk! In vier Romanen auf fast 2000 Seiten wird die Geschichte Josephs erzählt, die Geschichte von 16 kurzen Kapiteln im Buch Genesis der hebräischen Bibel. Um diesen knappen biblischen Kern hat Thomas Mann eine enorme Fülle alten und neuen Materials gesammelt, mit diesem den biblischen Bericht durchdrungen und so ein umfassendes Epos der beiden Hochkulturen des 2. Jahrtausends vor Christus verfasst – Palästina als Teil des Vorderen Orients und das Neue Reich Ägyptens ab 1550.

Enorm auch die Mannigfaltigkeit des Materials, mit dessen Hilfe der Dichter seine Erzählung »findet«: antike Quellen aus den verschiedensten Lebensgebieten, wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Archäologie, aus der Geschichte von Religion, Politik, Sprachen, Alltagskultur der Zeit seines Helden. Humor und Ironie schaffen Leichtigkeit und Distanz in dem hochkomplexen erzählerischen Integrationsprozess. Das bringt immer wieder beglückende Lesefreuden, bedeutsame und vergnügliche.

In diesem Jahr ist – endlich – die neue Edition der Tetralogie in der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe erschienen, herausgegeben von Jan Assmann, Dieter Borchmeyer und Stephan Stachorski unter Mitwirkung von Peter Huber. Zu den zwei Textbänden sind zwei Kommentarbände mit zusammen mehr als 2000 Seiten getreten, nach bewährter Systematik enthalten sie Entstehungsgeschichte, Quellenlage, Textlage, Rezeptionsgeschichte und Stellenkommentar (1148 Seiten!), zusätzlich und sehr willkommen das Glossar der Eigennamen und geografischen Begriffe, dazu Paralipomena, Materialien und Dokumente sowie ein Registeranhang – insgesamt eine mustergültige Kommentierung, die den Dichtertext in seinen zeitlich und räumlich so fernen Sphären begleitet und bis in die letzten Einzelheiten erschließt, wobei es offenbar Prinzip war, die Anteile der jeweiligen Kommentatoren nicht kenntlich zu machen.

Wie nähert man sich diesem Werk, um seiner Bedeutung einigermaßen gerecht zu werden?

Als Einführung bietet sich die wohltuend knappe Entstehungsgeschichte an, mit der der Kommentar einsetzt. Hier wird nicht nur die äußere Chronik des Schreibens und der Publikation von 1926 bis 1943 berichtet, wichtiger ist die Beschreibung und Geschichte der äußeren und inneren Motive, die, ähnlich der Wagner’schen Leitmotivik, mit ihrem Beziehungsgeflecht den Inhalt des Werkes durchziehen. Deren Weg führt von jugendlichen Bibeleindrücken über autobiografische Anlagen und Einflüsse (Stichwort »keuscher Joseph«) bis zu politischen und sozialen Anstößen und Spiegelungen aus dem 20. Jahrhundert.

Als ein Hauptmotiv stellt der Kommentar Goethes Anregung zur breiteren Erzählung der Joseph-Geschichte heraus, der sich Thomas Mann in seiner allfälligen Goethe-Nachfolge besonders verpflichtet fühlte: »Höchst anmutig ist diese natürliche Erzählung und man fühlt sich berufen, sie im Einzelnen auszumalen.« (Dichtung und Wahrheit, 4. Buch) Der junge Goethe war dieser Berufung ein Stück weit gefolgt, hatte aber das Fragment zusammen mit anderen Jugendschriften verbrannt. Der Kommentar: Das Vernichtete wollte Thomas Mann nun gleichsam – mit der im Grunde gleichen Intention einer »Amplifikation« der biblischen Geschichte – wie den Phönix aus der Asche wiedererstehen lassen.

Es ist kein geringes Verdienst dieser Entstehungsgeschichte, dass sie die sozialen und politischen Entsprechungen in der Gegenwart und Biografie des Dichters namhaft macht. Das geht von der Parallelität der Exil-Existenz von Autor und Held bis zu derjenigen zwischen Joseph und dem von Thomas Mann verehrten amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt (»Joseph, der Amerikaner«), ein spannendes Kapitel in diskret pointiertem Duktus.

Wofür steht Joseph mit seiner vom Dichter »gefundenen« Geschichte? Träger jüdischer Heilserwartung ist er nicht, das wird sein Halbbruder Juda, der am Ende dafür Jaakobs Segen empfängt (7. Hauptstück im 4. Roman Joseph der Ernährer). Joseph hingegen ist der Prophet und auch schon Repräsentant eines neuen Zeitalters, neuer, größerer Gemeinsamkeiten und Einheiten menschlichen Denkens und Zusammenlebens. In und mit diesen, so definiert der Kommentar das Ziel des Werkes, können die nationalen und ethnischen Beschränkungen überwunden und kann eine universale humane Geistes- und Bildwelt geschaffen werden. Hierzu gibt das erste Religionsgespräch zwischen Pharao Echnaton und Joseph (3. Hauptstück des 3. Romans) einen bedeutenden Anstoß. So hält das Zeitalters Josephs der schlimmen Gegenwart des Dichters – Faschismus, Krieg – den Spiegel vor, appelliert mit seinen Visionen und Diskursen und auch mit dem Glanz seiner Poesie an Menschlichkeit und Vernunft.

Vielleicht ist es eben dieser Glanz des Poetischen, der den Zugang zu unserem Monumentalwerk fürs Erste erleichtert. Hier lässt der Dichter die im Tiefen und Hohen verlaufenden Beziehungen von Menschen und Göttern zurücktreten und zieht bei der Beschreibung von Menschen, Szenen, Landschaften, Städten, Tempeln und Palästen alle Register poetischer Suggestion. Dazu einige Beispiele:

Schon der Anfang der Erzählung (»Ischthar«), die Schilderung des mondhellen Frühlingsabends mit seinem Sternenhimmel, ist von solch plastischer Eindringlichkeit, dass man meint, selbst wie der jungen Joseph in der mythischen Landschaft am Brunnen unter diesem Himmel zu sitzen. Da ist es denn schön zu lesen, dass diese Beschreibung auf dem Gutachten eines Münchener Astronomen über den Nachthimmel des Vorderen Orients in einer Frühlingsnacht des Jahres 1399 v. Chr. beruht, das im Stellenkommentar eingehend zitiert wird – ein eindrucksvolles Exempel für das komplexe Verhältnis zwischen Dichtung und Wirklichkeit in diesem Werk.

Ein ganz anderes dichterisches Glanzstück ist das Kapitel »Bericht von Mont-kaws bescheidenem Sterben« im 5. Hauptstück des 3. Romans. Hier werden die Biografie und der Tod von Potiphars Hausmeier, der den Sklaven Joseph gekauft und zu seinem Nachfolger erzogen hat, erzählt – eine der großen Sterbeszenen Thomas Manns, wie der Kommentar zu Recht feststellt. Die Wirklichkeit von Krankheit und Sterben sowie – in den Gesprächen mit Joseph – die Sorge für die Mumie wird in so vielen authentischen Einzelheiten berichtet, dass das genaue Bild eines ganz unbekannten bescheidenen Ägypters aus dem 14. Jahrhundert v. Chr. entsteht; der »Erfundene« wird zum »Gefundenen«. Und trotz oder gerade wegen dieser Authentizität der Zeugnisse einer so fremden Kultur vermag diese Gestalt den Leser tief zu bewegen.

Zum Schluss kann ich mir es nicht versagen, auf die berühmte »Damengesellschaft« (aus dem 7. Hauptstück des 3. Romans) einzugehen. Ein Feuerwerk aus Ironie und Humor, wie es allenfalls noch im Felix Krull seinesgleichen hat. Die in Joseph krankhaft (wörtlich) verliebte Frau des Potiphar, der Thomas Mann den ägyptischen »Original«-Namen Mut-en-enet verleiht, will ihren versammelten Freundinnen ihre unstillbare Leidenschaft vorführen, indem sie Joseph als Weinschenk auftreten lässt. Die Wirkung der Erscheinung auf die Damen ist so vehement, dass diese beim Schälen der dargereichten Früchte mit den überscharfen Messerchen sich allesamt in die zarten Finger schneiden, das Blut fließt in Strömen. Mut wird dafür von zwei hochgestellten Freundinnen sanft und verständnisvoll getadelt, am Ende getröstet. Einhellig wird festgestellt, dass Joseph mit seiner Weigerung im Unrecht ist.

Mit dieser »Damengesellschaft« hat es eine merkwürdige Bewandtnis. Die Bibel sagt darüber kein Wort, Thomas Mann hat sie aber auch nicht erfunden. Er fand sie im Koran, wo in der zwölften Sure die Joseph-Geschichte, übernommen aus der hebräischen Bibel, erzählt wird. In beiden schriftlichen Quellen ist das Bild der Mut negativ.

Nach dem humoristischen Höhepunkt der »Damengesellschaft« wird aus der mythischen Geschichte in Bibel und Koran, in der sich Sinnlichkeit und Lust der Frau und die Keuschheit des Mannes gegenüberstehen, die »richtige« und berührende Geschichte von Muts erotischer Verfallenheit und Josephs »Schuld« daran erzählt. Das negative Urteil über die Frau wird korrigiert, um Verständnis und Empathie wird geworben – dies auch wieder mit ironischem Augenzwinkern unter Berufung auf die ursprüngliche ungeschriebene Geschichte, die »das Leben sich selbst erzählt hat«. Humor und Humanität – eine ganz häufige Verbindung in Thomas Manns Werk. Davon erleben wir hier einen besonderen Höhepunkt.

 

Zum Weiterlesen:

Thomas Mann, Joseph und seine Brüder.

I. Die Geschichten Jaakobs. Roman. Der junge Joseph. Roman.

II. Joseph in Ägypten. Roman. Joseph der Ernährer. Roman.

Herausgegeben und textkritisch durchgesehen von Jan Assmann, Dieter Borchmeyer und Stephan Stachorski unter Mitwirkung von Peter Huber.

Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018. Je zwei Bände Text und Kommentar einzeln oder zusammen in einer Kassette (85 / 96 Euro).

 

Fritz Endemann lebt und arbeitet in Stuttgart. Veröffentlichungen und Vorträge vor allem zur Landesgeschichte und zur juristischen Zeitgeschichte, aber auch zu literarischen Themen.

  

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