Literaturgeschichte: Norwegen als Gast der Frankfurter Buchmesse

Eine kleine Einführung in die norwegische Literatur – und ihre deutsche Übersetzung … anlässlich der Einladung Norwegens als Gastland der Frankfurter Buchmesse

Von Gabriele Haefs

Bei vielen Sprachen lässt sich ziemlich genau sagen, wann und mit welchem Werk die dazugehörige Literatur einsetzt. Beim Norwegischen ist das nicht so einfach. Die altnordische Sagaliteratur entstand, als sich die späteren skandinavischen Sprachen noch nicht entwickelt hatten. Den Startschuss zu einer einheimischen norwegischen Literatur gab Königin Eufemia (ca. 1280–1312), die von Rügen stammte und deren Bruder Wizlaw als Minnesänger brillierte. Eufemia ließ die damalige europäische Ritterliteratur übersetzen und so kamen Stoffe wie Tristan und Isolde in Norwegen in Umlauf. Norwegen aber geriet im Jahre 1380 unter dänische Herrschaft. Die mit der Reformation einhergehende Bibelübersetzung, die in anderen Ländern die Grundlage einer landesweiten Standardsprache bildete, blieb deshalb aus, gelesen wurde die dänische Bibel. Natürlich wurde in dieser Zeit auch in Norwegen Literatur verfasst und gedruckt, nur eben auf Dänisch. Es ist noch heute eine beliebte Streitfrage, ob der Dramatiker Ludvig Holberg (1664–1754), der aus dem norwegischen Bergen stammte, aber im dänischen Kopenhagen starb, nun ein dänischer oder norwegischer Autor ist. Norwegisch wurde zwar weiterhin gesprochen, zerfiel aber mehr und mehr in Dialekte.

1815 war Norwegen für kurze Zeit unabhängig, wurde beim Wiener Kongress jedoch Schweden zugeschlagen. Die Erfahrung, einige Monate lang eine Nation mit eigener Verfassung gewesen zu sein, und die Tatsache, dass die neue Obrigkeit keinen Versuch unternahm, Schwedisch als Amtssprache einzuführen, gab den Anstoß zur Entwicklung einer norwegischen Schriftsprache.

 

Bestseller

Der erste Roman in norwegischer Sprache erschien 1854: Amtmandens døtre von Camilla Collett (1813–1895). Es war zugleich der erste norwegische Roman, in dem eine Autorin die zu ihrer Zeit herrschenden Geschlechterrollen kritisierte – und er gab damit den Startschuss zu einem Phänomen, das wir bis heute beobachten können: Immer werden in der norwegischen Literatur gesellschaftliche Probleme aufgegriffen und die Verhältnisse energisch kritisiert.

Der Roman von Camilla Collett erschien 1860 als Die Amtmannstöchter auf Deutsch. Danach wurde jahrzehntelang so ungefähr alles, was aus Norwegen kam, ins Deutsche übersetzt. 1889 veröffentlichten Johannes Schlaf und Arno Holz unter dem Pseudonym Bjarne P. Holmsen das Theaterstück Papa Hamlet, zusammen mit fiktiven Biografien des Autors und des Übersetzers. Sie gingen davon aus, dass ein neuer Norweger viel größere Chancen hätte, rezensiert zu werden, als zwei deutsche Neulinge. Das deutschsprachige Feuilleton fiel darauf herein und fand in dem Werk die typischen Züge der norwegischen Literatur!

Selbst danach war noch eine Steigerung möglich, denn nun kam Knut Hamsun, dessen Romane in deutscher Übersetzung alle damaligen Rekorde brachen, 300 000 und mehr Exemplare pro Buch, das hatte noch kaum jemand geschafft. »Wir waren hamsunsüchtig, wie man heutzutage heroinsüchtig ist«, schrieb 1955 die Literaturhistorikerin Friederike Manner.

In der Nazizeit kamen norwegische Almtragödien dazu, allen voran Und ewig singen die Wälder von Trygve Gulbranssen und Es geschah in einer Mittsommernacht von Olav Gullvaag. Noch heute liegen diese Romane in dicken Stapeln in Antiquariaten herum, doch niemand kauft sie, denn schließlich haben alle, die Bedarf daran haben, längst von einem Großonkel ein Exemplar geerbt. Danach war erst mal Schluss mit dem Erfolg norwegischer Literatur in Deutschland.

In Norwegen kamen nun neue Strömungen zur Geltung. Was übersetzt wurde (Jens Bjørneboe oder Tarjei Vesaas), fand kaum Leser, denn wer Almtragödien liebte, wollte keinen Existentialismus, und wer den wollte, las gleich französische Literatur. Große Erzähler und Erzählerinnen wie Johan Borgen, ein Meister der Kurzgeschichte, und Torborg Nedreaas, die die norwegische Literatur jener Jahre entscheidend beeinflussten, blieben vom deutschen Publikum unentdeckt.

 

 

Gesellschaftskritik

In den 1970er Jahren kam aus Skandinavien eine schwedische neue Krimiwelle (Sjöwahl / Wahlöö), mit Ermittlern, die altern und aus ihren Fehlern lernen oder auch nicht. Das verhalf der norwegischen Literatur in Deutschland jedoch zu keiner neuen Blüte. In Norwegen gab es zwar den überaus erfolgreichen Autor Jon Michelet (1944–2018), dessen umfangreiche Romane witziger, spannender und mit schärferer Gesellschaftskritik gewürzt sind als die schwedischen, aber übersetzt wurden sie erst mit mehr als zehn Jahren Verspätung und dann nur in stark gekürzten Fassungen. Jon Michelet war einer der Autoren, die sich im Umfeld der maoistischen Partei AKP (m-l) bewegten – und die ist ein norwegisches Phänomen. Bei Wahlen kam sie nie über Promille hinaus, aber für mehr als ein Jahrzehnt beherrschten die AKP-Autoren (fast nur Männer) die norwegische Kulturszene; noch heute sitzen in den Chefredaktionen von Verlagen und Zeitungen ehemalige AKPler, die lieber nicht auf ihre linientreue Vergangenheit angesprochen werden möchten. Alle AKP-Autoren mussten in jedem Buch die wichtige Rolle der Partei betonen, und nur wenigen gelang das mit so viel Witz wie Michelet. Ins Deutsche übersetzt sind unter anderem Espen Haavardsholm, Edvard Hoem und Dag Solstad. Ketil Bjørnstad beschreibt in seinem gerade erschienenen autobiografischen Roman Die Welt, die meine war. Die siebziger Jahre die bleierne Lähmung, die damals Autoren zu erfassen drohte, die mit der AKP nichts zu tun haben wollten. Einige Bücher aus Norwegen, die dort gegen den Strom schwammen, kamen in den 1980er Jahren auch in Deutschland zu Erfolg, sozusagen unter dem Radar des Feuilletons. Gerd Brantenbergs feministische Utopie Die Töchter Egalias erreichte eine Auflage von mehreren Hunderttausend und war damit viel erfolgreicher als das norwegische Original. Gudmund Vindlands Der Irrläufer über das Leben als junger Homosexueller im Norwegen der 1960er Jahre, trotz des ernsten Themas von mitreißender Situationskomik getragen, wurde hierzulande dreißig Jahre ununterbrochen nachgedruckt – wobei der Erfolg dieses Buches in Norwegen ebenso groß war und weiterhin ist. Dass sich die Lage geändert hatte, wurde in Norwegen 1986 deutlich, als der Roman Weiße Nigger von Ingvar Ambjørnsen einen wichtigen Literaturpreis gewann. Dessen Helden sind alles, was die AKP-Doktrin verabscheute: Sie rauchen Hasch, besetzen Häuser und wollen vor allem in Ruhe gelassen werden. Zehn Jahre zuvor hatte die AKP in ihr Parteiprogramm geschrieben, diese Art von »Lumpenproletariat« werde nach dem Sieg der Revolution nach Spitzbergen verbannt werden!

 

Sofies Welt, zuerst in Deutschland gelesen

1993 erschien der philosophische Roman Sofies Welt von Jostein Gaarder in deutscher Übersetzung. In Norwegen war das Buch zuerst kein besonderer Erfolg, erst als sich herumsprach, dass es in Deutschland alle Verkaufsrekorde brach, wurden auch Gaarders Landsleute aufmerksam. Seit damals wird nun endlich wieder viel aus dem Norwegischen übersetzt – und das Beispiel zeigt, dass nicht alles, was in Norwegen ein Erfolg ist, in Deutschland wahrgenommen wird, und umgekehrt.

Derzeit könnte man den Eindruck bekommen, dass norwegische Literatur vor allem von Männern geschrieben wird, die auf tausend Seiten ihren Nabel aus immer neuen Blickwinkeln bewundern. Die gibt es natürlich und es kommen immer neue dazu. Aber es gibt auch hervorragende Autorinnen – nehmen wir Vigdis Hjorth, im Moment zweifellos die einflussreichste und auch umstrittenste norwegische Autorin. Ihr Roman Arv og miljø (auf Deutsch Bergljots Kinder) wurde für den Literaturpreis des Nordischen Rates nominiert. Monatelang konnte man keine norwegische Zeitung aufschlagen, ohne dass über dieses Buch diskutiert worden wäre. Hjorth geht darin der Frage nach, was in einer Familie passiert, wenn ein Kind den übergriffigen Vater zur Rede stellt, während die anderen lieber wegschauen.

 

Norwegens Buchförderung

Es wäre sehr leicht, ins Schwärmen zu geraten und eine Menge AutorInnen zu nennen, die dringend eine Übersetzung verdient hätten – vor allem auch im Jugendbuchbereich, wo Norwegen sich absolut mit dem ungleich mehr übersetzten Schweden messen kann. Außerdem muss die vorbildliche und beneidenswerte norwegische Literaturförderung vorgestellt werden. Seit 1964 kauft der Staat von jedem (durch eine Jury bestimmten) belletristischen Titel 1000 Stück und verteilt sie an die Bibliotheken des Landes. Für die Verlage bedeutet das, dass die Produktionskosten gedeckt sind, und das erleichtert es natürlich, neuen AutorInnen eine Chance zu geben oder auch Lyrik auf den Markt zu bringen. Nicht alle Bücher allerdings kommen in den Genuss dieser Förderung, denn jedes Jahr sondert ein Komitee einige als nicht förderungswürdig aus. Da keine Begründung veröffentlicht werden muss, gibt es natürlich immer heftige Diskussionen – vor allem, wenn das Urteil so bekannte Namen trifft wie Anne Holt oder Jon Michelet. Oder, ein sehr kurioses Beispiel, den (nicht übersetzten) Jugendroman Landet under isen von Lars Mæhle, der in ein und derselben Woche ausjuriert und vom norwegischen Erziehungsministerium als bestes Jugendbuch des Jahres ausgezeichnet wurde. Trotz solcher Peinlichkeiten ist die Förderung natürlich ein Segen für die Vielfalt der norwegischen Literatur, und seit 2014 kommen auch norwegische Sachbücher in ihren Genuss. Wobei immer wieder diskutiert wird, ob wirklich »alles« gefördert werden muss – hat wirklich jeder eilig zusammengeschusterte Krimi eine staatliche Förderung verdient? Hierzu muss gesagt werden, dass in Norwegen derzeit Jo Nesbø und Unni Lindell die Krimiszene souverän beherrschen, niemand verkauft auch nur annähernd so viele Romane wie diese beiden. Folglich suchen alle Verlage händeringend den »neuen Nesbø«, die »neue Lindell« und bringen Krimis in Massen auf den Markt, in der Hoffnung, dass sich darunter der neue Bestseller befindet. Das braucht nicht alles gefördert werden, meinen die einen. Wo aber soll man die Grenzen ziehen und die Spreu vom Weizen trennen? Und in Zeiten, in denen zumindest die in der norwegischen Regierungskoalition vertretene rechtspopulistische Partei FRP offen sagt, dass sie am liebsten alle Zuschüsse für das Kulturleben abschaffen würde, sollte man lieber nicht an den bestehenden Förderungsprogrammen rütteln, sagen die anderen. Es ist doch besser, Dutzendware zu fördern, als die literarische Vielfalt Norwegens zu beschränken!

 

 

Zum Weiterlesen:

Ingvar Ambjørnsen, Weiße Nigger. Roman. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. Edition Nautilus, Hamburg 1988, Neuauflage 2006. 370 Seiten, 15,90 Euro

 

Ketil Bjørnstad, Die Welt, die meine war. Die siebziger Jahre. Roman. Übersetzt von Gabriele Haefs, Kerstin Reimers, Andreas Brunstermann und Nils Hinnerk Schulz. Osburg Verlag, Hamburg 2019. 750 Seiten, 26 Euro

 

Gerd Brantenberg, Die Töchter Egalias. Ein Roman über den Kampf der Geschlechter. Verlag Frauenoffensive, Berlin 1980 (antiquarisch)

 

Jostein Gaarder, Genau richtig. Die kurze Geschichte einer langen Nacht. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. C. Hanser, München 2019. 128 Seiten, 16 Euro

 

Vigdis Hjorth, Bergljots Kinder. Roman. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. Osburg Verlag, Hamburg 2019. 385 Seiten, 20 Euro

 

Mona Høvring, Was helfen könnte. Roman. Aus dem Norwegischen von Ebba D. Drolshagen. Edition Fünf, Gräfelfing 2019. 144 Seiten, 19 Euro

 

Alexander L. Kielland, Jakob. Roman. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2019. 220 Seiten, 19,90 Euro

 

Cora Sandel, Café Krane. Roman. Übersetzt von Birgitta Kicherer. Verlag Urachhaus, Stuttgart 2019. 221 Seiten, 19 Euro

 

Tarjei Vesaas, Das Eis-Schloss. Roman. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Nachwort von Doris Lessing. Guggolz Verlag, Berlin 2019. 199 Seiten, 22 Euro

 

Gabriele Haefs beschäftigt sich seit ihrem Studium von Volkskunde, Sprachwissenschaft, Keltologie und Skandinavistik intensiv mit Sigrid Undset und hat deren Debütroman Frau Marta Oulie 1999 erstmals ins Deutsche übersetzt.

Die Bandbreite ihrer Übersetzungen reicht vom Kinderbuch bis zum Krimi, von der Biografie bis zum Fantasyroman, kein Genre ist ihr fremd; zum Erfolg von Jostein Gaarders Jugendroman Sofies Welt hat Gabriele Haefs mit ihrer Übersetzung maßgeblich beigetragen. Sie wurde 2011 zur Ritterin geschlagen und erhielt den Königlich Norwegischen Verdienstorden sowie den Gustav-Heinemann-Friedenspreis, den Deutschen Jugendliteraturpreis und bereits 2008 den Sonderpreis für ihr übersetzerisches Gesamtwerk.

Soeben erschien ihr Buch 111 Gründe, Norwegen zu lieben im Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin.

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5_2019_Haefs.pdf

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